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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Gefahr war bezwungen und für den Augenblick schien auch das Unwetter nachzulassen. Der Regen hörte auf, der Sturm milderte sich und droben am Wolkenstein begann es lichter zu werden.

Auch die Arbeit ruhte einige Minuten. Der Präsident und Waltenberg, der gleichfalls abgestiegen war, schritten nach der Brücke, wo sich an Theil der Arbeiter versammelt hatte, um zu sehen, wie der bezwungene Wildbach seinen Weg in die Schlucht nahm. Alles athmete auf und schöpfte neue Hoffnung.

Nur der Chefingenieur stand noch seitwärts, abgesondert von den übrigen. Er hörte nicht die frohen Zurufe der Leute, sondern schien weit vorgebeugt auf irgend etwas zu lauschen, was aus der Höhe, aus den Lüften niederklang, wie fernes, fernes Meeresbrausen; er blickte unverwandt zu dem Gipfel des Wolkenstein empor und plötzlich wurde sein Antlitz fahl wie das eines Todten.

„Fort von der Brücke!“ donnerte er den Erschreckten zu. „Zurück – rettet Euch! Es gilt Euer Leben!“

Die letzten Worte wurden bereits verschlungen von einem dumpfen Rollen, das in wenigen Sekunden zum Donner anwuchs; aber der Warnungsruf war doch gehört worden. Die Leute stoben auseinander, sie fühlten es jetzt auch, daß irgend etwas Furchtbares nahte; es zu sehen und zu unterscheiden, dazu blieb ihnen keine Zeit, sie flohen in wilder Hast den beiden Endpunkten der Brücke zu.

Nordheim und Waltenberg wurden in dieser Flucht mitgerissen und der erstere erreichte auch wirklich den festen Boden, während Ernst gerade bei dem Brückenpfeiler strauchelte und stürzte. Neben und über ihm stürmten die anderen dahin; im Egoismus der Todesangst dachte jeder nur an die eigene Rettung, während er, betäubt von dem Sturze, am Boden lag, eine Minute lang völlig unfähig, sich zu erheben, und hier handelte es sich um Sekunden.

Da fühlte er plötzlich, wie ein kraftvoller Arm ihn packte und gewaltsam emporriß; er wurde festgehalten, eine Strecke fortgeschleift, endlich losgelassen und umfaßte nun taumelnd den Stamm eines Baumes, den er vor sich sah und der ihn aufrecht hielt.

Da kam es durch die Lüfte gezogen, heulend und brausend wie ein Orkan, gegen den all das Stürmen der letzten Tage nur leichtes Wehen war, und was in seinem Wege lag, das wurde niedergeworfen oder fortgerissen. Die Sturmesboten gingen der Alpenfee voran und schafften ihr Bahn, und nun kam sie selbst hernieder von ihrem Wolkenthrone. Es rollte wie tausendfacher Donner, auf allen Höhen, in allen Tiefen, als stürze die ganze Bergwelt zusammen; die Felsen schienen zu beben, die Erde zu wanken, als dies furchtbare Etwas weiß und gespenstig vorüberbrauste – das dauerte minutenlang, dann wurde es still – todtenstill.

Die Lawine hatte ihren Weg vom Gipfel des Berges direkt in die Schlucht genommen, einen Weg der Vernichtung. Der mächtige, schützende Bannwald am Fuße der Hochwand war verschwunden und der Abhang, wo er gestanden, zeigte nur ein wüstes, ödes Trümmerfeld. Der Lauf der Ache war gehemmt, die Schlucht zur Hälfte ausgefüllt mit einer eisigen, zerklüfteten Masse, aus der Felstrümmer und Baumstämme emporragten, und dort, wo die Brücke mit ihrer kühnen Wölbung sich von Fels zu Fels schwang, gähnte jetzt eine weite Leere. Zwei der riesigen Seitenpfeiler standen noch, die anderen waren ganz oder theilweise niedergebrochen und an ihnen hing noch ein Theil der Eisenrippen, verbogen und zerknickt wie dünne Rohrstäbe, alles andere lag da unten in der Tiefe. Sie hatte sich gerächt, die wilde Alpenfee – wie Splitter zusammengebrochen lag das stolze Menschenwerk zu ihren Füßen!




Dem furchtbaren Elementarereignisse folgte eine Scene der unbeschreiblichsten Verwirrung. In den ersten Minuten wußte überhaupt niemand, was eigentlich geschehen war, und als man es sich endlich klar machte, galt es vor allen Dingen, Hilfe zu bringen. Zwar hatte der Warnungsruf des Chefingenieurs das Schlimmste abgewandt; im Augenblick der Katastrophe hatte sich niemand mehr auf der Brücke befunden, aber ein Theil der Leute lag, von dem entsetzlichen Luftdruck niedergeworfen, betäubt am Boden, andere hatten durch die umherfliegenden Stein- und Eistrümmer mehr oder weniger Verletzungen erlitten; getödtet schien allerdings niemand zu sein und alles, was unversehrt geblieben war, stürzte jetzt herbei. Es gab zunächst nur ein wirres Durcheinander, ein Rennen und Rufen ohne Ende. Keiner wußte, was er zuerst thun sollte, bis es endlich den Besonneneren gelang, sich Gehör zu verschaffen.

Um so stiller ging es in einer Gruppe zu, die sich seitwärts um einen Schwerverwundeten gesammelt hatte und sich zusehends vergrößerte. Die Ingenieure, die Arbeiter, alles drängte heran; in den Mienen aller las man Bestürzung und ein banges, halblautes Flüstern ging wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: „Der Präsident?“ – „Nordheim selbst?“ „So schafft doch um Gotteswillen den Arzt herbei!“

Es war in der That Präsident Nordheim, der hier am Boden lag, blutend, bewußtlos, fast ohne Lebenszeichen. Er hatte sich anscheinend bereits in Sicherheit befunden, als einer der auffliegenden schweren Eisentheile aus dem zerstörten Brückenpfeiler ihn traf und niederwarf. Erna und Waltenberg waren um ihn beschäftigt und von allen Seiten war man bestrebt, ihnen Hilfe zu leisten, als sich jetzt der Kreis öffnete und der Chefingenieur mit dem Doktor Reinsfeld herantrat.

Benno war etwas bleicher als gewöhnlich, aber vollkommen ruhig, als er niederkniete und die Wunde zu untersuchen begann. Der Schmerz der Berührung schien Nordheim wieder zu sich zu bringen, mit einem lauten Stöhnen schlug er die Augen auf und sein starrer Blick blieb an dem Antlitz des Mannes hängen, der sich über ihn beugte. Er mochte ihn wohl nicht erkennen und glaubte offenbar, die Züge des einstigen Jugendfreundes zu sehen, die sich in dessen Sohn wiederholten, denn sein Gesicht nahm den Ausdruck eines unverkennbaren Entsetzens an und mit einer krampfhaften Bewegung versuchte er, sich aufzurichten und die helfende Hand zurückzustoßen, aber das gelang ihm nicht. Mit einem zweiten qualvollen Aufstöhnen sank er wieder zurück und ein Strom von Blut schoß aus seinem Munde hervor.

Die Umstehenden sahen darin nur den Ausdruck des körperlichen Schmerzes, Benno allein errieth die Wahrheit, er beugte sich noch tiefer und während er sanft seine Hand unter das Haupt des Leidenden schob und es zu stützen versuchte, sagte er leise:

„Stoßen Sie meine Hilfe nicht zurück, ich biete sie gern – aus vollem Herzen!“

Nordheim war unfähig zu sprechen, und jene heftige Bewegung hatte seine Kraft erschöpft, er verlor von neuem das Bewußtsein. Der junge Arzt untersuchte so schonend als möglich die Wunde in der Brust, legte den ersten Verband an und wandte sich dann mit tiefernster Miene zu Waltenberg und Elmhorst.

„Du hast keine Hoffnung?“ fragte der letztere halblaut.

„Nein, hier ist jede Hilfe vergebens,“ versetzte Benno in dem gleichen Tone. „Wir wollen versuchen, ihn nach seinem Hause zu schaffen; wenn der Transport mit der äußersten Vorsicht geschieht, hält er ihn vielleicht aus. – Gnädiges Fräulein, ich möchte Sie bitten, vorauszugehen und die Tochter vorzubereiten, damit sie das Schreckliche nicht allzu jäh trifft. Wir dürfen es ihr nicht verhehlen, daß der Vater sterbend zurückkehrt, denn er wird die Nacht nicht überleben.“

Er trat zurück und gab die nöthigen Anweisungen. An helfenden Händen war kein Mangel; es wurde rasch eine Tragbahre hergestellt, einige Mäntel und Decken herbeigeschafft und der Verwundete mit äußerster Sorgfalt darauf gebettet, dann trat der traurige Zug langsam den Weg nach der Villa an. Erna war bereits vorausgegangen und Reinsfeld, der sofort nachzukommen versprach, wandte seine Sorgfalt den anderen Verletzten zu, bei denen es nur einer ersten Hilfeleistung bedurfte, in Lebensgefahr befand sich keiner von ihnen.

Waltenberg war gleichfalls zurückgeblieben , er stand unentschlossen da und schien mit sich zu kämpfen; als er aber sah, daß der Chefingenieur sich nach der Wolkensteiner Schlucht wandte, folgte er ihm und holte ihn mit wenigen Schritten ein.

„Herr Elmhorst!“

Wolfgang blieb stehen und wandte sich um, es lag eine starre, unheimliche Ruhe in seinen Zügen und seine Stimme war völlig klanglos, als er sagte: „Sie kommen, mich an das gegebene Wort zu mahnen? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, zu jeder Stunde – meine Pflichten sind zu Ende.“

Ernst hatte eine solche Mahnung in diesem Augenblicke wohl nicht beabsichtigt, er machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Ich glaube, wir sind jetzt beide nicht in der Stimmung, unseren Streit auszufechten. Vor allen Dingen sind Sie es nicht.“

Elmhorst fuhr mit der Hand über die Stirn; jetzt, wo die furchtbare Anspannung seiner Nerven nachließ, fühlte er erst, wie erschöpft und todesmatt er war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_822.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)