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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

diese Liebe nie aus Deinem Herzen reißen, und wenn ich ihn niedergeschossen hätte, so hättest Du den Todten noch geliebt. Jetzt, wo er im Unglück ist, fliegt ihm ja Deine ganze Seele zu – so geh’ hin zu ihm, ich hindere Dich nicht mehr – Du bist frei!“

„Laß uns zusammen gehen!“ bat Erna mit aufflammender Innigkeit. „Biete Wolfgang die Hand zur Versöhnung, Du kannst es, denn jetzt bist Du der Großmüthige, der Gewährende, wir haben Dir nur zu danken.“

Er stieß mit einer beinahe wilden Heftigkeit ihre Hand zurück.

„Nein, ich wil, ich kann diesem Manne nicht mehr begegnen! Wenn ich ihn wiedersehe, stehe ich für nichts; dann bäumen sich all die Dämonen in mir wieder auf; Du ahnst nicht, was es mich gekostet hat, sie niederzuzwingen, laß sie ruhen!“

Erna wagte es nicht, ihre Bitte zu wiederholen, sie begriff, daß diese leidenschaftliche Natur wohl entsagen, aber nicht verzeihen konnte; in stummer Ergebung senkte sie das Haupt.

„Lebe wohl!“ sagte Ernst, auch jetzt noch in dem herben, feindseligen Tone, den er während der ganzen Unterredung festgehalten hatte. „Vergiß mich – es wird Dir leicht werden an seiner Seite.“

Sie sah zu ihm auf mit heißen Thränen im Auge.

„Ich werde Dich nie vergessen, Ernst, niemals! Aber ich werde es ewig als einen Vorwurf empfinden, daß Du in Haß und Bitterkeit von mir gegangen bist.“

„Im Hasse?“ rief er mit ausbrechender Leidenschaft, und plötzlich fühlte sich Erna von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gerissen. Noch einmal überströmte er sie mit jener wilden, glühenden Zärtlichkeit, die nie auch nur die leiseste Erwiderung gefunden hatte; aber in diesem Augenblicke hatte sie etwas vom Wahnsinn des Schmerzes an sich. Dann riß er sich los und stürzte fort; der kurze, stürmische Liebestraum seines Lebens war zu Ende, war ausgeträumt für immer! –

Draußen war inzwischen der Tag angebrochen; seit gestern abend hatte der Regen aufgehört, auch der Sturm hatte sich während der Nacht, wenigstens theilweise, gelegt, der wilde Aufruhr der Natur schien sich allmählich zu beruhigen.

Die Rettungsarbeiten waren überall eingestellt worden, man hatte nur die nöthigen Wachen an den einzelnen Punkten zurückgelassen. Es gab in der That kaum mehr etwas zu retten, seit die Wolkensteiner Brücke vernichtet war. Der schwerste Schlag war zuletzt gefallen, aber die ganze weite Bahnstrecke hatte den ungeheuersten Schaden erlitten, nur wenige der zahlreichen Bauten und Brücken waren unversehrt geblieben, und angesichts dieser Verheerung erschien die Wiederherstellung fast unmöglich. Der Schöpfer des ganzen Unternehmens lag todt in seinem Hause, die geplante Uebernahme von seiten der Gesellschaft fiel selbstverständlich mit dieser Katastrophe. Ob und wann sich andere fanden, die das halbzerstörte Werk wieder aufnahmen, mußte erst die Zeit lehren.

Es mochten wohl solche Gedanken sein, die durch die Seele des Mannes zogen, der so einsam mit verschränkten Armen am Stande der Wolkensteiner Schlacht stand und auf die Verwüstung blickte. Es war ein eisig kalter, düsterer Herbstmorgen; in den Schluchten und Thälern gährten noch dichte, weißgraue Nebelmassen, lange Wolkenzüge schwebten an den Bergen hin und ein grauer, schwerer Himmel blickte nieder auf die nasse, zerwühlte Erde, die noch ringsum die Spuren dieser Schreckenstage trug.

Ueberall entwurzelte und abgebrochene Bäume, zerschmetterte Felsblöcke, wüste Schlamm- und Geröllmassen, überall noch die Spuren der Arbeiter, die so heldenmüthig und so vergeblich mit den Elementen gerungen hatten. Dazu tönte dumpf das Rauschen der Wildbäche, die zwar nicht mehr gefahrdrohend, aber noch immer reißend genug von den Höhen niederstürzten, und das Rauschen des Windes, der den triefenden, sturmgepeitschten Wäldern noch immer keine Ruhe gönnte.

Nur in der Wolkensteiner Schlucht herrschte die Ruhe des Grabes. Wie ein riesiger Gletscher lagerte es dort in der Tiefe, weiß und starr und dazwischen ein chaotisches Gemisch von Erd- und Felsmassen. Die Lawine, die zweifellos am Gipfel des Wolkenstein entstanden war, mußte furchtbar angewachsen sein auf ihrem Wege, denn sie hatte den ganzen Bannwald, von dem man unbedingten Schutz erhoffte, niedergeworfen, die hundertjährigen Tannen geknickt wie dürres Gesträuch und mit ihnen auch einen Theil des Bergesabhanges in die Tiefe gerissen. Und dann hatte sich diese ganze Masse von Eis und Schnee, von Felsblöcken und Baumstämmen mit einer durch die rasende Schnelligkeit ihres Laufes verzehnfachten Wucht gegen die Brücke geworfen und sie zerschmettert. Einem solchen Ansturm widerstand freilich kein Werk von Menschenhand.

Es war immerhin an Trost, sich das sagen zu können; aber Wolfgang Elmhorst schien für diesen Trost nicht zugänglich zu sein. In dumpfem Brüten starrte er auf das eisige Grab, wo all seine stolzen Hoffnungen und Entwürfe ruhten, um vielleicht nie wieder aufzuerstehen. Schon damals, als man den Plan der ganzen Bahnstrecke entwarf, war die Wolkensteiner Brücke beanstandet worden, der ungeheuren Kosten wegen. Man wollte die Schlucht überhaupt vermeiden und die Bahn auf einem Umwege weiter führen, der nicht halb so kostspielig war. Aber Nordheim, den das Kühne, Großartige des Entwurfes reizte, und der überdies einen Glanzpunkt für seine Bahn brauchte, war mit allem Nachdruck für die Brücke eingetreten und hatte schließlich seinen Willen durchgesetzt. Für die Zukunft war das nicht zu hoffen, da konnten nur Gründe der Sparsamkeit maßgebend sein, und damit war das Urtheil des Werkes gesprochen, das eine feindselige Macht gerade in dem Augenblick vernichtete, wo es der Welt vor Augen treten und seinem Schöpfer Ruhm und Namen bringen sollte.

Da kam etwas heran, was in mächtigen Sätzen über den nassen, schlammigen Erdboden hinjagte, ein großer, löwenartiger Hund, der, froh, der langen Zimmerhaft entronnen zu sein, seine Freude in ungestümer Weise kund gab. Er blieb dicht vor Elmhorst stehen und machte Miene, ihm in gewohnter Liebenswürdigkeit die Zähne zu weisen, unterließ das aber zum ersten Male, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit fesselte. Der kluge Greif merkte sofort, was geschehen war. Er wurde unruhig, richtete spürend den Kopf nach der Tiefe, nach der anderen Seite der Schlucht und wandte dann die großen, dunklen Augen wie fragend auf den Chefingenieur.

Wolfgang hatte bisher immer noch seine Fassung behauptet, wenigstens äußerlich; bei diesem unbedeutenden Zufall, vor der stummen Frage des Thieres, brach sie zusammen. Er legte die Hand über die Augen und ein paar Thränen, die ersten seit seiner Knabenzeit, rollten heiß und brennend über seine Wangen.

Da hörte er seinen Namen nennen, leise, schüchtern, mit einem Tone, wie er ihn noch nie vernommen hatte und der ihm gleichwohl nicht fremd war.

„Wolfgang!“

Er wandte sich um, eine rasche Bewegung mit der Hand tilgte die verräterische Spur auf den Wangen; dann trat er, sich gewaltsam zusammenraffend, der schlanken Gestalt entgegen, die, in einen dunklen Regenmantel gehüllt, das blonde Haar unter einem schwarzen Spitzentuche geborgen, einige Schritte entfernt stand, als wage sie es nicht, näher zu kommen.

„Sie hier, Erna?“ fragte er hastig. „Nach der furchtbaren Nacht, die Sie durchlebt haben?“

„Ja, sie war furchtbar!“ sagte das junge Mädchen mit einem schweren Athemzuge. „Sie haben die Nachricht von dem Tode des Onkels erhalten?“

„Vor zwei Stunden. Ich hatte nicht mehr das Recht, an seinem Sterbebette zu weilen; auch hätte wohl meine Anwesenheit ihn nur gepeinigt, deshalb bin ich fern geblieben. Wie trägt es Alice?“

„Sie ist für den Augenblick noch fassungslos; aber Doktor Reinsfeld ist an ihrer Seite.“

„Dann wird sie den Schlag überwinden. Sie lieben sich ja, und wenn man das Geliebte schirmend und tröstend zur Seite hat, erträgt sich alles, auch das Schwerste im Leben.“

Es sprach eine tiefe Bitterkeit aus den Worten; Erna antwortete nicht, aber sie trat langsam näher und stellte sich an seine Seite. Er blickte sie an; aber sein Antlitz verdüsterte sich nur noch mehr.

„Ich weiß es, warum Sie kommen; Sie wollen mir ein Wort des Trostes, der Theilnahme sagen – wozu das? Der Fluch, den Ihr Vater sterbend ausgesprochen, hat sich ja nun erfüllt, die Zerstörung des alten Erbsitzes der Thurgau ist gerächt, und ich glaube, der Freiherr würde zufrieden sein mit dieser Rache.“

„Legen Sie den Worten, welche die Verzweiflung, die Erregung des nahen Todes auspreßte, wirklich eine solche Kraft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_838.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)