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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Ich möchte fast Herrn von Sonnleithner recht geben,“ antwortete diese in ihrer frischen Redeweise, „nur meine ich, daß es noch weit wirksamer und auch klarer wäre, wenn Sie den Hauptaccent auf das ‚Kommen‘ legten. Denn gerade, daß der Minister zur rechten Zeit gekommen ist, giebt so den Ausschlag.“

Da sprang Beethoven jäh von seinem Sitz empor und brach in ein unbändiges Gelächter aus – während Sonnleithner erschrocken einige Schritte zurückwich. Dann rief er mit einer ingrimmigen Bissigkeit:

„Ein Tausendglück, daß Ihr nur zu zweit gekommen seid, denn wären Euer ein halbes Dutzend, so gäbe es mehr Deutungen, Lesarten und Vorschläge, als das arme Versungeheuer Füße und Silben hat! – Da bin ich in eine schöne Klemme gerathen! – Wißt Ihr, wie ich mir in diesem Augenblick vorkomme?“ Damit faßte er Frau Nanette, die sich erhoben hatte, unter den einen Arm, packte Sonnleithner unter den andern und sprach dann geheimnißvoll zu beiden: „Geht heim und leset die Fabel Lafontaines von dem Bauer und seinem Sohne, die ihren Esel zum Markt führen und dabei auf das Gerede und den Rath der Leute hören – und danach thun. Dann wisset Ihr, wie mir zu Muthe ist. – Doch getrost, Kinder, laßt mich nur ein halbes Stündchen allein, muß über Eure gewiß wohlgemeinten Vorschläge nachdenken. Geht einstweilen in den Park – dort werdet Ihr den Breuning finden, der bereits auf mich wartet. Bald bin ich bei Euch und dann wollen wir zusammen promeniren und plaudern.“

Damit drängte er beide zur Stube hinaus und setzte sich wieder ans Klavier. Herr von Sonnleithner und Frau Nanette Streicher gingen in den Park des kaiserlichen Lustschlosses, doch fanden sie dort ebenso wenig Herrn Stephan von Breuning wie nach einer vollen Stunde Wartens – Beethoven.

Der Meister saß in ernsten Gedanken versunken vor dem Entwurf seines großen Finales und ließ die drei verschiedenen Lesarten des bewußten Verses an seinem Geiste, dann auf dem Klavier Revue passiren: „Wo steckt das Richtige?“ sagte und fragte er sich, ohne eine genügende Antwort finden zu können. Sein Kopf begann zu glühen, und je mehr er nachdachte, je schwankender wurde er in seiner Meinung. Da rief er plötzlich mit einem raschen Entschluß. „Hol’s der Teufel! ich will die sämmtlichen Lesarten anbringen – eine davon wird gewiß die wirksamste und somit auch die richtige sein – das Publikum mag entscheiden.“ Dann begann er zu schreiben – Sonnleithner und die Streicher waren vergessen wie er früher Breuning vergessen hatte. –


* * *


Gegen Ende des Sommers war die Arbeit gethan und Meister Beethoven brachte die fertige Partitur mit nach Wien. Am 20. November desselben Jahres, 1805, wurde die Oper, und zwar gegen den Willen Beethovens, unter dem Titel „Fidelio“ in dem Theater an der Wien zum ersten Male aufgeführt – ihre weiteren Schicksale sind bekannt. –

Und die drei Lesarten des verhängnißvollen Verses?

Beethoven hat sie wahr und wahrhaftig zur Ausführung gebracht.

Der Leser mag nur einen Klavierauszug zur Hand nehmen, dort findet er sie im zweiten Finale, bei Roccos Erläuterungen dicht neben einander stehen:




Aus der Reichshauptstadt.

5. Das gastliche Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer, O. Gerlach und Fr. Stahl.

Im Volkskaffeehaus.

Als Berlin nach den gewaltigen politischen Umwälzungen, welche der deutsch-französische Krieg zu Stande gebracht, plötzlich aus der preußischen Residenz zur deutschen Kaiserstadt erhoben worden war, bemerkten vielleicht zuerst die seltsame und überraschende Metamorphose, die sich für Berlin mit den erwähnten Ereignissen verband, die zahllosen Fremdenscharen welche herbeieilten, um die von Ruhm und Sieg umstrahlte Stadt in ihrem neuen verjüngenden Lichte zu schauen. Eher als die spreegetauften Einwohner selbst sahen sie, welche bedeutenden und tief einschneidenden Veränderungen sich theils schon vollzogen hatten, theils erst vorbereiteten, wie sich die Stadt in ihrem Innern sowohl wie auch nach außen hin reckte und streckte, wie sie sich in kürzester Frist verschönte und den Rang, der ihr unversehens zuertheilt worden war, vollauf in Anspruch nehmen und ausfüllen wollte.

Der Ruf davon verbreitete sich schnell; hatte bisher Berlin fast abseits von der großen kontinentalen Fremdenlinie gelegen, hatten nur wenige gewagt, es mit Paris und London, so auch nur mit Wien in einen Vergleich zu stellen, so änderte sich dies in kürzester Zeit. Nicht nur, daß die durch gemeinsam vergossenes Blut so eng mit dem leitenden Staat vereinigten Bundesgenossen viel häufiger wie jemals zuvor die Reichshauptstadt aufsuchten und dort zu ihrer Freude nicht mehr das specifisch „preußische Berlin“ vorfanden, auch von fernher lenkten sich die Fremdenströme mehr und mehr der neu emporblühenden Weltstadt zu und schenkten ihr dieselbe Aufmerksamkeit wie den bisher begünstigten Kolleginnen an der Seine, der Themse und Donau. Waren früher Russen, Engländer, Italiener, Amerikaner etc. nur vereinzelte Gäste in Berlin gewesen, so traten sie jetzt in wachsender Zahl auf, sehr viele von ihnen gründeten sich hier ein festes Heim, andere wieder kehrten regelmäßig hierher zurück, fast immer in Gefolgschaft neuer Landsleute. Bald schon konnte man von festgegliederten englischen, amerikanischen, italienischen, russischen etc. Kolonien sprechen, und zu diesen Ländern gesellten sich neben anderen Japan und Siam, wie auch der zuerst so vielangestaunte Chinese in langem Seidenrock und mit sauber geflochtenem Zopf rasch eine typische Erscheinung auf den Straßen Berlins wurde, die heute niemand mehr auffällig berührt. Sicherlich dürfte es nicht zu hoch gegriffen sein, wenn wir die Zahl der jetzt jährlich die Hauptstadt besuchenden Fremden auf etwa eine halbe Million schätzen und diese Ziffer dürfte sich in fortwährendem Steigen befinden, ohne daß ein Rückschlag zu befürchten wäre.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_848.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2019)