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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

die Bergbewohner in ihren Sonntagstrachten zusammengeströmt, um den ersten Zug kommen zu sehen, dem sie mit Staunen und Neugier entgegenblickten. Der nun endlich vollendete eiserne Weg sollte so auch Wohlstand und Gedeihen in ihre einsamen Thäler bringen.

Seit jenen unheilvollen Herbsttagen waren fast drei Jahre vergangen, und im Anfange schien die Vollendung der Bahn ganz in Frage gestellt zu sein, wenigstens soweit es die obere Strecke, die eigentliche Wolkensteiner Gegend betraf. Die Verhandlungen mit der Gesellschaft hatten monatelang gedauert, bis endlich die Energie und Ausdauer des Chefingenieurs siegte und das halb zerstörte Werk in seinem ganzen Umfange wieder aufgenommen und glücklich zu Ende geführt wurde.

Die Station Oberstein, die eine ziemliche Strecke von dem Orte selbst entfernt, am Ausgange der Wolkensteiner Brücke lag, trug einen besonders reichen Laub- und Fahnenschmuck. Der Zug, der den Chefingenieur und seine Gattin, die sämmtlichen Mitglieder des Verwaltungsrathes und eine Anzahl geladener Gäste brachte, sollte hier einen längeren Aufenthalt nehmen, deshalb war auch ein besonders feierlicher Empfang beabsichtigt. Die ganze Kurkapelle von Heilborn stand auf dem Bahnhofe, auf der nächstliegenden Anhöhe war eine Anzahl von Böllern aufgefahren und die Bevölkerung der Umgegend war hier zahlreicher zusammengeströmt als auf all den andern Stationen.

Mitten unter der bunten, freudig erregten Menge bemerkte man auch die lange Gestalt Veit Gronaus. Er sah noch etwas brauner und verwetterter aus als vor drei Jahren, schien aber sonst ganz der Alte geblieben zu sein. Ernst Waltenberg hatte in seinem Testamente seinen ehemaligen Sekretär sehr großmüthig bedacht und ihm eine durchaus unabhängige und behagliche Zukunft gesichert; aber der alte Wandertrieb war zu mächtig gewesen, Veit war wieder hinausgezogen in die Welt und erst jetzt nach jahrelanger Abwesenheit zurückgekehrt, um sich „das alte europäische Nest“ einmal wieder anzusehen. An seiner Seite befanden sich Djelma, jetzt kein Knabe mehr, sondern ein hübscher, schlanker Bursche von achtzehn Jahren, und Said, der europäische Kleidung trug und seinen ehemaligen Vorgesetzten und Mentor soeben freudigst begrüßt hatte.

„Ich bin serr froh, Master Hronau wiederzusehen,“ versicherte er einmal über das andere. „Ich schon wußte von Doktor Gersdorf, daß Master Hronau würde kommen zu dem Feste, aber wir glaubten, Master Hronau –“

„Said, thu’ mir den Gefallen und höre endlich auf mit Deinem Master Hronau!“ unterbrach ihn dieser in der alten derben Weise. „Hast Du noch nicht Deutsch gelernt? Da radebrechst es noch immer in derselben ohrenzerreißenden Weise und bist doch nun drei volle Jahre in Deutschland gewesen. Da höre den Djelma an, der plappert jetzt wie ein Staarmatz, trotzdem wir die ganze Zeit in Indien herumgezogen sind. Das Deutsche habe ich ihm beigebracht; aber die Dummheit habe ich ihm noch nicht ganz austreiben können, die ist zu solide angelegt. Du wolltest ja damals durchaus hier bleiben. Wie ist es Dir denn ergangen in Deiner neuen Stellung bei dem Doktor Gersdorf?“

„O serr gut!“ versicherte Said; „aber ich nicht bleibe dort, ich gehe fort, schon in wenig Wochen.“

„So? Wohin denn?“ fragte Djelma, der das Deutsche jetzt in der That ganz fließend sprach, mit offenbarer Neugierde.

„Nach Oberstein! Ich“ – der Neger machte eine sehr bedeutende Kunstpause, sah erst Djelma, dann Gronau an und vollendete endlich mit ungeheurem Selbstbewußtsein:

„Ich verheirathe mich!“

„Du Unglücksmensch, wie kommst Du denn dazu?“ fuhr Gronau auf. „Und wo in aller Welt hast Du denn hier eine schwarze Landsmännin aufgetrieben?“

„Meine Braut ist ganz weiß und serr, serr hübsch,“ erklärte Said mit höchster Genugthuung. „Sie ist die Wärterin des kleinen Bertie, sie liebt mich serr, und Missis Gersdorf sagt, wir uns müßten heirathen unter allen Umständen.“

„Natürlich, in dem Hause, wo die Frau regiert, muß alles heirathen!“ brummte Veit. „Was willst Du denn aber mit Deiner künftigen, Dich so serr liebenden Gemahlin in dem Nest von Oberstein anfangen?“

„Oberstein jetzt ist Station!“ berichtigte Said mit Nachdruck. „Doktor Gersdorf hat mir verschafft die Pacht von dem neuen Gasthause, welches die Bahngesellschaft gebaut hat. Wir werden geben zu essen und zu trinken all den Fremden, welche kommen werden mit den Zügen, viele Hunderttausende.“

„Viele Hunderttausende!“ spottete Gronau. „Das scheint so ein recht ausgedehnter Geschäftsbetrieb zu werden. Du hättest gleich heute damit anfangen können, denn die Herren vom Verwaltungsrath und die sonstigen Gäste, die mit dem Zuge kommen, werden doch alle essen und trinken wollen, und hier auf dem Bahnhof sehe ich noch gar keine Anstalten dazu.“

„Nein, Doktor Reinsfeld giebt droben in seiner Villa großes Diner all den Herrschaften,“ erklärte Said wichtig.

„Doktor Reinsfeld in seiner Villa? Großes Diner? Ja so“ – Veit lachte laut auf. „Ich bin doch neugierig, wie der gute Benno sich eigentlich als Millionär ausnimmt. Wahrscheinlich ist ihm das sehr unbequem, aber er wird sich wohl in das Unglück finden müssen, denn eine Million ist immer noch von dem riesigen Nordheimschen Vermögen übrig geblieben, wie mir Gersdorf schrieb.“

„Master Gronau, da kommt der Zug!“ rief Djelma, das Gespräch unterbrechend. Die ganze auf dem Bahnhofe harrende Menge gerieth in Bewegung, alles drängte heran und reckte die Hälse, um den ersten Zug zu sehen, der auf dem schmalen eisernen Wege aus der Tiefe emporstieg. Jetzt verschwand er in dem großen Tunnel unterhalb Oberstein; setzt kam er wieder zum Vorschein und glitt stolz und ruhig heran. Die bekränzte Lokomotive ließ ihre lange, weiße Rauchwolke wie eine Siegesfahne dahinwallen, jetzt erreichte sie die Schlucht, und nun donnerte die ganze Wagenreihe über die Brücke, empfangen von rauschender Musik, von jubelnden Hochrufen und Böllerschüssen, die rollend das Echo der Felsen ringsum weckten.

Auf dem Bahnhofe entleerte sich der Zug, aber es dauerte fast noch eine halbe Stunde, ehe man die Fahrt nach der Villa antrat. Zunächst wurde der Haupt- und Glanzpunkt der Bahn, die Wolkensteiner Brücke, die ein Theil der Gäste noch nicht kannte, eingehend besichtigt. Der kühne Riesenbau war wieder auferstanden aus der Vernichtung; stolz und mächtig wie einst schwang er sich von Fels zu Fels, unter ihm in schwindelnder Tiefe brauste die Ache in ihrer alten Wildheit, und hoch über ihm hob der Wolkenstein sein Haupt empor, das auch heut eine leichte Nebelkappe trug. Aber auf dem Abhange, wo einst der Bannwald gestanden hatte, erhob sich jetzt ein breites, festgefügtes Mauerwerk, ein sicherer Schatz gegen eine mögliche Wiederholung des Lawinensturzes.

Der Chefingenieur mit seiner jungen Gattin am Arme machte den Führer bei der Besichtigung. Er war selbstverständlich der Held des heutigen Tages, den man von allen Seiten mit Glückwünschen und Ausdrücken der Bewunderung überhäufte. Er nahm sie ohne jede Ueberhebung, mit ruhigem Ernste hin.

Erna dagegen strahlte vor Glück und freudigem Stolze, ihre Augen leuchtetet auf bei jedem Glückwunsche, jedem Wort der Bewunderung, das ihrem Manne galt, der wie sie selbst von allen Seiten umdrängt und in Anspruch genommen wurde. Jeder geizte danach, mit der schönen Gemahlin des Chefingenieurs wenigstens einige Worte zu sprechen, für jeden mußte sie eine freundliche Erwiderung, eine Aufmerksamkeit haben.

Allerdings mußten die beiden die Repräsentation allein übernehmen, denn Doktor Reinsfeld, der als Gemahl der Erbin des verstorbenen Präsidenten die zweite Hauptrolle zu spielen hatte, kam dieser Pflicht nur sehr unvollkommen nach. Er trug nicht mehr das berühmte altmodische Staatskleid und die safrangelben Handschuhe, in denen er die Bekanntschaft seiner jetzigen Frau gemacht hatte. Sein Gesellschaftsanzug war völlig tadellos, aber man sah es ihm doch an, daß er den heutigen Tag als eine schwere Aufgabe betrachtete. Er beschränkte sich auf Verbeugungen und vielfache Händedrücke und hielt sich möglichst im Hintergrunde, als ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht vor ihm auftauchte und eine bekannte Stimme fragte:

„Habe ich noch die Ehre, von dem Herrn Doktor Reinsfeld gekannt zu sein?“

„Veit Gronau!“ rief der Doktor, froh überrascht, indem er ihm die Hand hinstreckte. „Also haben Sie unsere Einladung doch noch rechtzeitig erhalten! Aber warum meldeten Sie sich nicht früher und machten die Fahrt mit?“

„Ich bin über Heilborn gekommen“ versetzte Gronau, „und da war gerade noch Zeit, den Empfang hier in Oberstein mitzumachen. Meinen Glückwunsch zu dem heutigen Tage, Benno, an dem Sie so auch so nahe betheiligt sind.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 856. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_856.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)