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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 2.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


An dem Abend, wo Major von Tollen mit seiner Familie in Westenberg eintraf, hatte Tante Melitta alle ihre Puppenanlagen illuminirt und erntete den vollsten Beifall der drei Nichten, von denen die älteste, zwanzigjährige, freilich schon Braut, Lore aber erst zwölf und Käthe erst sechs Jahre zählte. Auf ihren Bruder, den Major, aber hatte Westenberg gleich in den ersten Minuten einen höchst niederschlagenden Eindruck gemacht. Die dreistündige Omnibusfahrt von der letzten Eisenbahnstation mit den unruhigen Kindern und dem vielen Handgepäck hatte seine Nerven gereizt; die Finsterniß des Herbstabends, nur durch spärlich vertheilte, an Ketten über den Straßen schwebende Laternen hier und da erhellt, die gealterte Erscheinung der Schwester, die ihn exaltirt bewillkommnete, der Anblick der alten bekannten Möbel, welche Erinnerungen an längst vergangene bessere Zeiten weckten, alles machte ihn unwirsch und verdrießlich. Er nannte die Puppenanlagen einen verfl… Unsinn, die Betten im Gasthause vorsündfluthlich und schloß mit der Versicherung, daß dies Westenberg allem Anscheine nach das miserabelste Nest sei, das ihm in seinem langen Leben vorgekommen. Er werde sofort die Möbelwagen zurückschicken, woher sie gekommen. Nun, das geschah freilich nicht, schon der Geldbeutel verbot es, aber die Schwester verzieh dem Bruder das Urtheil nie, das er über ihr geliebtes Puppenasyl und über ihr trautes Westenberg gefällt hatte, das Verhältniß blieb ein gespanntes bis auf den heutigen Tag.

Mit der stillen, von Sorgen gequälten Schwägerin ging es desto besser, denn im Grunde war Fräulein Melitta ein gutmüthiges Geschöpf, wenn sie auch, wie man so sagt, ihre Mucken hatte. Ihr Liebling war Lore, das schöne schlanke Mädchen mit der eigenartig stolzen Haltung des kleinen goldhaarigen Kopfes und dem ehrlichen Herzen. Sie hatte das kecke übermüthige Wesen der Jüngsten nie geliebt, Käthe war ihr daher ein Greuel, und seitdem dieser Unband ihr mit einer so frommen unschuldigen Miene zum letzten Geburtstage, am 31. März, Kiebitzeier, in ein Körbchen mit rosa Watte verpackt, geschenkt hatte, die das freche Ding von einem Nachbarsjungen mit unsäglicher Mühe erlangte, wurde sie von Tante Melitta überhaupt nur noch geduldet, denn: „Nicht einmal der Schmerz um den verlorenen Kiebitz ist ihr heilig gewesen! Die heutige Jugend ist entartet!“ hatte sie entrüstet geäußert zu Lore, die eine Viertelstunde später gekommen war und Käthe, blau vor unterdrücktem Lachen, mit einem Tellerchen voll Eierfladen

Ha–a–derlump!
Nach einer Originalzeichnung von Thekla Brauer.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_021.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2020)