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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


„Ich müßt’s erst mit eigenen Augen sehen, ich glaub’s nicht eher. Nun ist das Unglück über uns gekommen, damit fängt’s an.“

„Willst Du sie einmal sehen, Mutter? Darf ich sie Dir bringen?“ rief er, ohne die letzten Worte zu beachten. „Ich denke, ich treffe sie jetzt auf dem Spaziergange, und will sie bitten, daß sie einen Augenblick hereintritt zu Dir.“

Er hatte sich erhoben und den Hut aufgenommen, der vom Schoß der alten Frau achtlos zur Erde geglitten war.

Sie antwortete nicht.

„Ich bringe sie Dir, Mutter, dann hast Du sie lieb, ich weiß es!“ rief er. Und er lief mehr als er ging aus der Stube, in den dämmernden Oktobernachmittag hinaus.

In den Anlagen durchmaß er die Wege mit förmlichen Sturmschritten, aber all die Gänge lagen einsam vor ihm. Ein Gefühl der Enttäuschung bemächtigte sich seiner; er hatte bestimmt geglaubt, Lore werde mit der Schwester spazierengehen. Er saß einen Augenblick unter dem Pavillon nieder und zeichnete mit seinem Stock Lores Namen in den feuchten schwarzen Erdboden; er war so vertieft darin, daß er nicht bemerkte, wie ein paar seiner Schüler vorübergingen und ihn grüßten und dabei die verbotenen Cigarren versteckten. Es wurde nahezu grauer Abend und ihn fror, er ging langsam nach der Stadt zurück und stand ein Weilchen außen vor der Gartenthür seines kleinen Grundstückes, überlegend, ob er hinaufgehen solle, um zu arbeiten. Es sei ihm nicht möglich, meinte er dann, und schlenderte dem nahen Stadtthore zu.

Unter dem gewölbten Durchgang kam, mit den Armen schlenkernd, Käthe Tollen ihm entgegen. Das braune Wollkleid war etwas sehr kurz, die Lederstiefel hatten ausgeweitete Gummizüge und gaben dem Fuß eine wunderliche Form, und das Filzbarett saß schief über dem gelangweilten kecken Gesichte. Er mußte lächeln; welch ein Unterschied zwischen den beiden Schwestern!

„Guten Tag, Fräulein Käthe,“ begann er auf sie zugehend, „wollen Sie spazierenwandern? Und so allein?“

Das Gesicht des jungen Mädchens ward glühend roth, sie machte eine etwas unbeholfene Verbeugung. „Die Lore kann ja nicht mit, die muß in Mamas Salon sitzen und der alten ‚Beckern‘ Kaffee präsentiren.“

„So? Nun, da werde ich Sie ein Stückchen begleiten, wohin wollen Sie denn gehen?“

Käthe versagte einen Augenblick der Athem – Doktor Schönberg wollte mit ihr – – der heimliche Abgott sämmtlicher Schülerinnen mit ihr, mit Käthe Tollen – spazieren? Sie blickte ihn völlig konsternirt an, dann besann sie sich – in der Stadt traf man jedenfalls Mitschülerinnen, und welches Furore würde es machen! – „Ich wollte eben umkehren,“ log sie, „ich muß noch auf den Markt, habe da eine Bestellung – bei – bei –“

„Schön“ unterbrach er sie, „ich werde Sie bis zu – zu – na, es ist gleich – begleiten. Wie steht’s mit Ihrem Aufsatz, Fräulein Käthe, über –?“

„Den habe ich ja längst abgegeben!“

„Ah, richtig – ja, ja. Also Ihre Frau Mama hat Besuch?“

„Seit zwei Stunden sitzen sie da und hecheln den Ball durch,“ berichtete Käthe.

„Er war wohl sehr schön?“

„Weiß ich nicht, Lore spricht schon den ganzen Tag kein Wort, sie ist überhaupt viel früher nach Hause gekommen als die andern. Ich kann’s ihr nicht verdenken.“

„Wieso denn?“ fragte der junge Mann und schritt auf dem Fahrdamm, weil der Bürgersteig allzu schmal war für beide.

„Na, das weiß doch jeder, daß Adalbertchen unserer Lore den Hof macht.“

Er antwortete nicht gleich. „Das ist Fräulein Lore sicher sehr unangenehm?“ preßte er dann hervor.

„Möglicherweise – ja!“ erwiderte Käthe. „Jedenfalls wäre ich nicht dageblieben, und wenn die Frau Elfriede Becker mir noch zehnmal mehr Liebenswürdigkeiten sagte und noch besorgter thäte um mein Befinden.“

Er war stehen geblieben, just vor einem Goldschmiedsladen. Wie in Gedanken verloren musterte er die bescheidenen Auslagen, und seine Augen blieben an einem Kästchen mit Sammetleisten hängen, zwischen denen eine Menge glatter goldener Ringe, im Scheine einer Petroleumlampe, blitzte.

„Das sind Trauringe,“ sagte Käthe, die seinen Blicken gefolgt war.

„Würden Sie mir einen Gefallen thun, Fräulein Käthchen?“ fragte er, ohne die Augen abzuwenden von dem Kästchen.

„Was denn?“ scholl es zurück. Jeder andere hätte zur Antwort bekommen „Ich habe keine Zeit!“ Ihm gegenüber brachte sie es nur zu einem unfreundlichen. „Was denn?“

„Fräulein Lore ein Buch übergeben, das ich ihr versprach.“

„Na ja! Geben Sie her!“ klang es gleichgültig.

„Ich muß es aber erst von Hause holen“

„Das ist gleich. Ich komme mit bis an Ihre Wohnung, während Sie das Buch holen, gehe ich auf und ab.“

Er hatte sich schon umgewandt, und sie schritten eilig neben einander her. Weite Entfernungen gab es ja nicht in Westenberg, nach kaum acht bis zehn Minuten eilte der Doktor durch den kleinen Vorgarten in sein Haus, Käthe blieb vor der Gitterpforte stehen. Unter den hohen Rüstern war es vollständig dunkel; sie hatte sich gegen einen der Bäume gelehnt und sah hinauf nach dem Giebelfenster, wo er wohnte. Sie athmete rasch und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Nun flammte Licht dort oben auf; sie sah einen Schatten sich bewegen, dann mußte er sich tiefer ins Zimmer zurückgezogen haben, denn der Schatten verschwand.

Sie hatte sehr lange zu warten. Sollte er es vergessen haben, daß sie dort unten stand? Und Käthe war nicht gewöhnt, zu warten. Was ging es sie an, daß er Loren ein Buch versprach! - Was das wohl zu bedeuten hatte? Käthe nahm sich vor, dieses Buch erst zu studiren, bevor sie es an Lore gab. Sie traute der Sache nicht; Lore war eine Heimlichthuerin, sie war so oft roth geworden, wenn ihnen der Doktor beim Spaziergange begegnete, oder wenn überhaupt von ihm die Rede gewesen. –

Käthe stampfte plötzlich mit dem Fuße auf und ballte die Hände zur Faust. Sie hätte Lore schütteln mögen vor Zorn und wußte doch nicht – weshalb? Sie wollte fortlaufen, und doch hielt sie der Gedanke, sie müsse erfahren, was es mit dem Buche sei.

Endlich kam er. Das Buch war in Zeitungspapier eingeschlagen.

„Haben Sie sich gefürchtet?“ fragte er. „Sie hätten zu meiner Mutter eintreten sollen.“

„Ich fürchte mich nicht,“ klang es trotzig zurück. Sie riß ihm das Buch aus der Hand. „Soll ich sonst noch etwas bestellen?“

„Nein! Fräulein von Tollen weiß schon, aber Sie dürfte es vielleicht interessiren, daß ich nächsten Donnerstag die Litteraturstunde nicht geben kann; ich muß auf acht bis zehn Tage verreisen.“

„So? – Viel Vergnügen!“ Es sollte recht gleichgültig klingen.

„Ist keine Vergnügungstour,“ bemerkte er, „ich muß zu einer Philologenversammlung nach M. Nun wollen wir aber gehen, ich begleite Sie nach Hause.“

„Ich danke,“ antwortete sie, „ich gehe allein viel lieber. Guten Abend!“

(Fortsetzung folgt.)




Die Landenge von Panama.

2. Die Eisenbahn.
Von Dr. Emil Jung.

Die Entdeckung des Zusammenhanges zwischen der nördlichen und südlichen amerikanischen Festlandhälfte machte es den Seefahrern jener Zeit klar, daß der Weg zu den gesuchten ostasiatischen Reichen nur um den Norden oder den Süden des langgestreckten neuen Kontinents führen könne, denn an ein Ausschiffen auf der einen Seite der schmalen Landenge und ein Einschiffen auf der andern durfte bei der unwegsamen Natur des Landes und den unentwickelten Verkehrsverhältnissen jener Zeit durchaus nicht gedacht werden. Und hatten auch die Indianer sich Balboa gegenüber gefügig genug gezeigt, so fingen sie, aufgereizt durch die brutale Raubgier seiner Nachfolger, doch bald an, das Betreten ihrer Territorien zu einem Unternehmen gefährlichster Art zu machen.

Dennoch gediehen die spanischen Niederlassungen an beiden Ufern des schmalen Isthmus, Panama zumal, von wo aus Pizarro

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_058.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2021)