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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Mit leichenblassem Gesicht und schlotternden Knieen stellte er sich an die Spitze der Seinigen und hinter ihm her zog die ganze Familie in Prozession zitternd und betend nach der Hauskapelle, wo Herr Ricciardo gelobte, hundert Messen für den Frieden der armen Seele lesen zu lassen, und erst als auf der Straße alles still geworden war, suchten die verstörten Hausgenossen ihre Betten wieder auf.

Um dieselbe Stunde wurde der alte Pförtner in dem Palast der Amieri durch lautes Pochen aus dem Schlafe geweckt. Er öffnete langsam das kleine Seitenthor, woher der Lärm kam; aber als er die junge Herrin, die er vor wenigen Stunden selbst zu Grabe geleitet hatte, im weißen Leichengewand, mit aufgehobenen Händen und einem Gesicht, in dem alle Grauen des Todes lagen, draußen stehen sah, meinte er, ein Blendwerk der Hölle vor sich zu haben, denn nimmermehr konnte er glauben, daß die Seele seiner frommen tugendhaften Gebieterin dem dunkeln Sarg entstiegen sei und spukhaft auf der alten Stätte wie ein verdammter Geist umherschweife.

Mit einem Ruf des Schreckens warf er die Thür ins Schloß, rief seine Frau und erzählte ihr, was er gesehen hatte. Beide kamen überein, den Herrn zu wecken und ihm von dem entsetzlichen Gesicht Mittheilung zu machen.

Bebend stiegen die zwei alten Leute in Messer Ciones Schlafgemach hinauf; aber der alte Ritter hatte seinen Schmerz tief im Grunde des Bechers begraben und wäre jetzt selbst durch die Posaune des jüngsten Gerichts nicht zu erwecken gewesen. Vergebens war alles Anrufen und Schütteln, Herr Cione stieß nur unartikulirte grunzende Laute aus und ließ den Kopf, den man ihm mit Gewalt in die Höhe gerichtet hatte, schwer in die Kissen zurückfallen.

Und als die Alte, um bis zu seinem Bewußtsein durchzudringen, ihm den Namen seiner Tochter in die Ohren schrie, lallte er:

„Ja, ja, sie ist ein Engel geworden, – laßt mich in Frieden!“ und führte mit dem mühsam aufgehobenen Arm einen so kräftigen Schlag nach der Stelle, woher der Eingriff in seine Ruhe geschah, daß es die beiden Alten gerathen fanden, sich zurückzuziehen, von ferneren fruchtlosen Versuchen abzustehen und die Verantwortung für den ganzen Vorfall selbst zu tragen.

Sie flüchteten sich in ihr Bett und sprachen noch viele Vaterunser für die Ruhe der armen Seele, bis sie endlich selbst entschliefen.

Nachdem Leonardo in seiner Betäubung lange, ohne zu wissen, was er that, noch wo er sich befand, in der nächtlichen Stadt umhergeirrt war, den Tod erwartend, den er glaubte von Ginevras Lippen getrunken zu haben, bog er endlich, von einem inneren Triebe geleitet, in die Straße ein, wo sein elterliches Haus stand. Da sah er eine weiße Gestalt regungslos auf den Thürstufen sitzen, ein goldenes Kränzlein in den Haaren, die Flechten aufgelöst über die Schultern hängend und das Gesicht im Mondschein geisterbleich glänzend.

Der starke Mann stand vor Schreck gelähmt, kaltes körperliches Entsetzen rieselte durch seine Glieder und sträubte ihm die Haare auf dem Kopf.

„Ist das der Wahnsinn?“ fragte er sich, an die Stirn greifend. „Ist das Bild aus meinem eigenen Geiste herausgetreten und hat die Gestalt des Lebens angenommen, daß ich ihm auf allen Schritten begegnen muß?“

Als Ginevra die Männergestalt sah, die zuerst vor ihrem Anblick zurückgeprallt war und nun in der grellen Mondbeleuchtung mit weit aufgerissenen Augen zaudernd vor ihr stehen blieb, erhob sie sich wie schuldbewußt und wich mit ausgestreckten Händen scheu zurück.

„O bleibe, bleibe, entflieh mir nicht!“ rief der junge Mann, indem er sich aus dem Bann des Grausens loszuringen strebte und entschlossen herantrat, denn er glaubte seine letzte Stunde gekommen. – „Und wenn Du ein Blendwerk der Hölle wärst, ich fürchte mich nicht vor Dir, da Du so theure Züge trägst.“

„Ich bin ja todt,“ sagte sie zögernd mit gesenktem Kopf, als gestehe sie ein Verbrechen ein, und drängte sich dabei immer weiter nach der Mauer zurück. – „Alle haben sich vor mir gefürchtet,“ setzte sie mit halberloschener Stimme hinzu, die klang, als sei ihr die Gewohnheit des Sprechens schon fremd geworden – „sie wollten mich nirgends einlassen; aber ich thue niemand ein Leides und will gleich wieder gehen.“

„Ginevra!“ rief er, und sie horchte hoch auf bei diesem Ton, aber noch immer war ihr Blick fremd und irr.

„Nein, kein Trugbild,“ fuhr er mit schauerndem Entzücken fort, „dies ist meine Ginevra selbst – Du kommst, weil ich Dich rief – im Sarg hab’ ich mich Dir zum zweiten Mal verlobt und Dein bin ich mit Leib und Seele. O, fürchte nicht, daß mir Dein Anblick schrecklich sei! Wohin Du gehst, will ich Dich begleiten, und wo Du seist, will ich bei Dir sein.“

Da brach das Licht der Liebe durch die Umdüsterung ihres Geistes, und sie sank willig in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten.

„O Leonardo!“ sagte sie und die Worte brachen gewaltsam wie ein Schluchzen aus ihrer Brust. – „Laß mich noch einmal den Kopf an Deine Schulter legen – so lange, lange hab’ ich mich danach gesehnt – ich mußte Dich noch einmal sehen, ich bin ja nur aufgestanden, um Dir zu sagen – ach, fühle, wie kalt ich bin – alle haben sich gefürchtet –“

Ihre stammelnde Rede ward unterbrochen durch heftige Küsse, die ihr den Mund verschlossen.

„Ich fürchte mich nicht,“ rief der Jüngling außer sich – „wenn Dein Hauch Verwesung ist und Dein Kuß Verdammniß, was sind Tod und Hölle, wenn ich bei Dir bin? – Sieh, wie der feige Tyrann besiegt und winselnd um die Ecke schleicht! Fasse mich an – halte fest an mir, daß er Dich nicht noch einmal hinwegführe.“

Er hob sie in den Armen auf und eilte mit der theuern marmorkalten Last nach dem Hause, dessen Thür er durch einen Fußtritt sprengte, als ob ein Verfolger hinter ihnen wäre.

In einem Zimmer zu ebener Erde ließ er sie auf ein Ruhebett nieder, bedeckte sie sorgsam mit seinem Mantel und warf sich daneben auf die Kniee, sie von neuem umschlungen haltend. Ginevra schmiegte sich schauernd an ihn und sog gierig Lebenswärme von seinen Lippen, während ihre kalten Hände wie halberstarrte Vögelein an seiner warmen Brust eine Zuflucht suchten. Sie wollte reden, aber die Stimme gehorchte nicht, und nur ein heftiges, krampfartiges Schluchzen machte ihrer Erschütterung Luft. Der Jüngling ließ ihr keine Zeit, zur Besinnung zu kommen; überwältigt von der schauerlichen Süße dieses Zusammenseins preßte er die vermeintliche Todte an seine klopfende Brust und stammelte unter heftigen Liebkosungen:

„Weine nicht, Ginevra, ich bin ja Dein – Du sollst nicht mehr in Deinem kalten Bette liegen! Ist es Sünde, daß ich diesen Mund küsse, auf den der Tod sein Siegel gedrückt hat, daß ich in diese starre Brust meine Lebensflamme ausströmen lasse? – Mag sie erlöschen, wenn sie Dich nicht mehr wärmen kann. O Ginevra, dieser Augenblick wiegt mir die ganze Ewigkeit auf, die ich verscherze. Und wenn ich ihn mit Strafen der Hölle zahlen muß, der Preis soll mir nicht zu theuer sein für so viel Glück.“

Am Ende stammelte er nur noch unzusammenhängende leidenschaftliche Worte, auf die Ginevra durch Thränen, Seufzer und Küsse antwortete. Das irdische Dasein zerfloß zu Nebel vor ihren entzückten Sinnen, sie wußten nicht mehr, ob sie dem Tode oder dem Leben angehörten, sie wußten nur, daß sie Selige waren. Und endlich lösten sich Ginevras Arme vom Hals ihres Geliebten, ihr Kopf sank ermattet an seiner Brust herunter und sie entschlief. Leonardo bewegte noch zuweilen die Lippen, um ihren Namen zu flüstern, während der Schlummer auch seine Lider streifte und sein Haupt herniederzog, daß es auf dem ihren ruhte. Und die reine Florentinische Sternennacht wachte mit ihren glänzenden Augen über der Liebe, die die grausenvolle Schranke zwischen den Lebendigen und Todten übersprungen hatte.

Erst die Morgensonne scheuchte aus Leonardos vom Schlummer gestärkten Sinnen die schauerlich süßen Nachtgebilde, und er erkannte, daß er keine Leiche auf den Knieen hielt, sondern blühendes junges Leben, das in seinen Armen erwarmt war und nun mit gleichem Pulsschlag ruhig lächelnd athmete. Er bettete die Schläferin sanft auf dem Lager, das er mit Thränen der Freude und frommer Rührung benetzte. Er brauchte sich nicht zu fragen, wie alles gekommen sei, von selber drängte sich die Erkenntniß in seine Seele, daß er es gewesen, der ohne sein Wissen Ginevra vor dem schrecklichen Los der Lebendigbegrabenen gerettet hatte.

Den Rest des Hergangs erfuhr man aus ihrem eigenen Munde, als sie nach langem erquickenden Schlummer sich allmählich mit glücklichem Staunen in der Wirklichkeit zurechtfand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_080.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)