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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

schon wieder weit, weit von hier, auf dem Wege nach M. „Lore, mein Gott!“ seufzte die alte Dame.

Die Tochter wandte ihr das blasse Gesicht zu.

„Du bist so gleichgültig, Lore!“

„Wegen Rudi, Mama? Nein, sicher nicht,“ betheuerte das junge Mädchen. „Ich schlafe keine Nacht, mir ist zu Muthe wie vor einem Gewitter, weißt Du, so schwül und bang – aber es ist eben nichts anderes zu thun, als abzuwarten. Und dann –“ sie beugte sich zärtlich zu dem Haupte der Mutter nieder und küßte ihr die Stirn, „dann tragen wir das Schwere wieder treu mit einander, Mütterchen, wie so manchmal schon.“

„Wenn’s aber zu schwer wird, wenn es meine alten Schultern nicht mehr aushalten?“

„Ich helfe Dir ja, Mama, habe Vertrauen, es kommt auch wieder ein Sonnenstrahl dazwischen, warte nur ab!“ Ihre Augen lachten sekundenlang, sie wußte so ganz sicher, welche Sonne scheinen würde. Und als ob ihr dies Bewußtsein neuen Muth gebe, fragte sie. „Sind denn heute keine neuen Nachrichten von Herrn von Benberg für Rudolf gekommen?“

„Doch!“ erwiderte die Mutter, „er bombardirt ja förmlich den armen Jungen. Gestern zwei Briefe und vorhin schon wieder einer, Rudi hat ihn aber ungelesen in die Tasche gesteckt. Was kann’s auch helfen?“

„Wo ist Rudi denn?“

„Bei Papa.“

Das Dienstmädchen klapperte jetzt auf ihren Holzpantoffeln die Treppe wieder herunter und lief in den Garten.

„Nun hat er den Brief,“ flüsterte Frau von Tollen, „und eben kommt auch Rudolf herunter.“

Der junge Offizier trat bald darauf in die Küche zu Mutter und Schwester. „Gott sei Dank!“ murmelte er, „das ist ja nicht mehr zu ertragen mit dem Geschimpfe, hoffentlich bringt ihn der Brief auf ein anderes Thema, ich bin heute nach allen Richtungen hin ‚gerissen‘ worden. – Den Hasen da hat wohl Becker geschickt?“ setzte er fragend hinzu, „er wollte heute früh hinaus.“

Lore bejahte.

„Na, da giebt’s doch wenigstens endlich mal keinen Kälberbraten zum Sonntag,“ brummte er.

„Mein Herz, ich kann nicht Feldhühner und dergleichen kaufen,“ sagte Frau von Tollen zerstreut.

„Ja doch, Mama! Lieber Gott, Du nimmst auch alles übel.“

„Ach nein, Rudi, das habe ich mir schon längst abgewöhnt –“

Sie flog plötzlich vom Stuhle empor, der Major rief nach ihr mit wahrer Donnerstimme.

Die Geschwister waren jetzt allein. „Na, das wird ein schöner Radau werden,“ sagte der Lieutenant und nahm den Platz der Mutter ein.

„Gar nicht! Warum denn?“ fragte Lore, ohne in ihrer Beschäftigung einzuhalten.

„Hm! Du wirst Dir wohl denken können, was die Dame will.“

„Annähernd – aber es gehören immer zwei dazu, Rudolf; sie hätte sich das sparen sollen.“

„Meinetwegen, mir kann’s gleich sein!“ erwiderte er verdrießlich und erhob sich. In der niedrigen Thür wandte er sich noch einmal um. „Es geht lustig zu da oben, hörst Du?“ bemerkte er achselzuckend. Des Majors Stimme klang bis zur Heiserkeit entstellt herunter.

„Es hat alles mal ein Ende,“ sagte Lore, obgleich sie einen Schein bleicher geworden war. „Mich dauert nur Mama – Papa, denke ich, ist meiner Ansicht.“

Nach einem Weilchen ging sie hinauf. Als sie an der Thür zu ihres Vaters Zimmer vorüber kam, rief der alte Herr just: „Meine Töchter mögen heirathen, wen sie wollen, aber verkuppelt sollen sie nicht werden! Das Mädel mag mir selber sagen, daß sie ihn will, dann werde ich’s glauben – eher nicht – basta! Die Melitta aber fliegt bei Gott im Himmel die Treppe hinunter, läßt sie sich hier blicken, und wenn ich der Mörder meiner einzigen Schwester werden sollte. Kunkeleien dulde ich nicht!“

„Aber, Tollen!“ bat weinend die Gattin.

„Schweig! Der alten Zigeunermutter da, der Beckern, werde ich antworten, ich – verstehst Du? Schöner Kerl das, der sich unter die Schürze der Mutter steckt! Kann der Laps denn nicht selbst sein Heil versuchen? Nein, da heißt’s: ‚Mein Sohn, der zu bescheiden ist, um sich hinter dem Rücken des Vaters der Tochter zu nähern, möchte durch ein kurzes Wort erfahren, ob es dem hochverehrten Herrn Major und dessen liebenswürdiger Frau Gemahlin genehm ist, wenn er sich um die Hand des Fräulein Leonore bewirbt.‘ Verfluchter Frauenzimmerkram! Der Kerl hat nie in der bunten Jacke gesteckt, sonst wäre er ehrlich gekommen und hätte nur gemeldet: ‚Ich liebe das Mädel – kann ich sie kriegen oder nicht?‘ Und dann – dann würde ich ihn ebenso ehrlich die Treppe hinunter geworfen haben, daß er sich die Knochen einzeln hätte aufsuchen können, der Protz, der Pomadentopf.“

Lores schönes Gesicht war plötzlich eitel Sonnenglanz. Sie lief eilig die Treppe hinauf und in ihr Stübchen. Der herzige, gute alte Papa! Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Sie blickte nach dem Gymnasium hinüber und dann in die Ferne hinaus, die dunstig und verschleiert vor ihr lag. – Guter, lieber Papa! Nie wieder wollte sie murren, wenn er schalt und brummte, nie wieder! Und zu ihm gehen wollte sie heute noch und sagen: „Papa, ich liebe Einen, der wird zu Dir kommen und Dich kurz und bündig fragen, ob er ‚Dein Sohn‘ heißen darf. Und ein ganzer Mann ist er, ein guter, ein kluger Mann, der Doktor Ernst Schönberg.“

Sie ertappte sich auf einmal auf halblautem Singen. – Wenn doch Käthe käme! Sie mußte ihr ja Grüße bringen, sie mußte erzählen können, ob er sehr betrübt gewesen, daß sie nicht selbst kam. Und heute nachmittag in der Dämmerung würde sie zu seiner Mutter schlüpfen. – Sie ward wie mit Blut übergossen bei dem Gedanken und ihr Herz klopfte rasch, es ist ein banges Gefühl für ein junges Mädchen, das zum ersten Male unter die Augen der zukünftigen Schwiegermutter tritt. Sie wußte, die alte Pastorin war eine abgöttisch liebende Mutter und würde sie scharf ansehen als diejenige, von der ihres Sohnes Glück und Wohlergehen abhinge; – wenn sie ihr doch gefallen möchte! Sie ging an ihr Blumenbrettchen, wo eben die letzten Monatsrosen blühten, und bog jede einzelne herunter, um sie zu betrachten. Die wollte sie abschneiden für die alte Frau.

Wenn doch Käthe erst da wäre! Aber Käthe kam nicht. Als man bereits beim Mittagessen saß, erschien der kleine Junge, der Pagendienste bei Fräulein Melitta versah, und meldete, Fräulein Käthe äße bei Fräulein von Tollen Mittagbrot, die Herrschaften möchten nicht warten. – Es war das etwas so Unerhörtes, daß ein allgemeines Staunen erfolgte, denn Käthe und Tante Melitta mieden einander wie Sonne und Mond.

„Was giebt’s denn heute beim gnädigen Fräulein?“ fragte der Lieutenant mit einem Anflug von Humor und goß sich aus des Vaters Flasche Rothwein in die Suppe, um die „Kraftbrühe“ einigermaßen genießbar zu machen, wie er zu sich selbst sagte.

„Klump und backen Beeren,“ erklärte schmunzelnd der Junge.

Lore wunderte sich innerlich, vor Klößen und Backobst lief Käthe sonst davon.

Der Kleine ward entlassen. Der Major saß in stiller Wuth über die Verschwendung seines Rothweins da, und niemand sprach ein Wort. Lore bemühte sich, durch freundliches Wesen die drückende Stimmung zu bannen, umsonst. Der alte Herr aß hastig und trug sein grimmigstes Gesicht zur Schau, Frau von Tollen blieb stumm, der Sohn spielte mit Messer und Gabel und war ungeheuer förmlich beim Zureichen der Schüsseln oder dem Ablehnen der dargebotenen. Schließlich faltete der alte Herr, noch bevor er abgegessen, die Serviette zasammen, brummte ein kurzes: „Mahlzeit!“ und hinkte zur Thür hinaus.

„Papa fühlt sich nicht wohl,“ sagte die Mutter entschuldigend. „Ihr dürft ihm das nicht übelnehmen.“

Sie wußte kaum, daß sie es sprach, sie kannte diese Redensart längst auswendig. Seit einer Reihe von Jahren hatte sie täglich Veranlassung, sie anzuwenden, und sie that es mit nimmermüder Geduld.

Der Lieutenant stand auf und pfiff ein paar Takte, zog sein Cigarrenetui aus der Tasche und setzte sich ans Fenster. „Es ist mir bloß schleierhaft, wie Ihr das aushaltet, ohne überzuschnappen,“ erklärte er und vertiefte sich, während das kleine Dienstmädchen den Tisch abräumte, in die Lektüre des Wochenblattes.

Lore nahm ein leichtes Tuch um und ging in den Garten. Der Himmel hing voller Wolken, aber die Luft war still und fast warm. Sie spazierte in den engen Wegen umher und lenkte endlich ihre Schritte dem Gitterpförtchen in der alten Mauer zu und

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