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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Ach Käthe, Gott sei Dank, Du bist es!“

„Ja, ich bin’s – und – ein recht hübscher Tag heute,“ antwortete diese und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür.

„Ja, es ist sehr traurig, es ist furchtbar, Käthe, aber –“

„Na, nimm’s nicht übel, Lore, wenn man vor solche Wahl gestellt wird –“

„Was denn Käthe?“

„Ich meine: Familienschande – oder Opfer, dann weiß man doch, was man zu thun hat.“

„Käthe, Du sagst das? Du?“

„Ja!“

„Und weißt, daß ich ein Wort brechen, mein und sein Glück preisgeben müßte?“

Lore fand keine Antwort, und auch Käthe schwieg. Sie blieb in ihrer Stellung, die Augen gesenkt, und wippte mit den Fußspitzen. „Käthe,“ sagte Lore endlich, „Du kannst gehen!“

„Schön! Adieu!“

„Nur die Adresse möchte ich noch.“

„Ich weiß sie nicht.“

„Hast Du ihn denn nicht gefragt danach, Käthe?“

„Nein. – Gute Nacht!“ Sie wandte sich langsam. „Wenn Benberg sich nur nicht eine Kugel vor den Kopf schießt,“ sagte sie über die Schulter zurück, „ich glaube, er thut es.“

Die Thür klappte hinter ihr zu und Lore wußte nicht, ob sie wache oder träume. Sie setzte sich auf den Stuhl am Bette und wollte nachdenken, aber es ging nicht. „Warum denn ich?“ sprach sie einmal laut, dann sank sie wieder in sich zusammen.

Es mußte schon spät sein, als sie emporschrak, die Lampe brannte trübe und es fröstelte sie. Ob sie denn schon zu Bette, die andern? Sie sah nach der unförmlichen silbernen Taschenuhr über ihrem Bette, welche ein Erbstück des Großvaters war, das sie sich vom Vater erbettelt hatte, damit sie die Zeit nicht verschlafe. Die Zeiger wiesen auf elf Uhr.

Ob die Mutter wohl schlief?

Sie ging leise aus der Stubenthür und lauschte über das Treppengeländer. Unten war es still und dunkel, nur der Wind klapperte mit den Läden. Schon wollte sie wieder zurücktreten, da klang es wie ein Stöhnen in ihr Ohr. „Der Sturm!“ flüsterte sie, aber sie wagte nicht, sich zu rühren, ein unsagbares Grauen erfaßte sie, alle Schauergeschichten, wie sie das Volk hier zu Lande sich erzählt, traten vor ihre erregten Sinne. – So stürmt es, wenn einer sich selbst das Leben genommen, sagen die Leute, dann fliegt seine arme Seele mit dem Nacht-Raben über das finstere Land und muß ewig mit ihm fliegen durch Sturm und Grauen zur Strafe seiner Sünde. Sie sah plötzlich mit furchtbarer Deutlichkeit den Lieutenant Benberg vor sich, wie sie ihn gestern gesehen auf der Photographie, die sie in Rudolfs Koffer gefunden; schlank, den Ueberrock aufgeknöpft, aber es war ein blasses ernstes Gesicht, furchtbar blaß sogar, und er lag auf einem Kissen, mit geschlossenen Augen. Todt – Rudolfs wegen und – sie – sie hätte ihn retten können!

„Barmherziger!“ – Jetzt schrak sie zusammen: wieder ein Stöhnen durch das Toben des Sturmes. Aber im nächsten Augenblick befand sie sich schon auf der Treppe und stand im Flur des ersten Stockes.

„Mama?“ fragte sie. „um Gottes wissen, Mama, wo bist Du denn?“

Es war so dunkel hier unten, Lore konnte nicht die Hand vor Augen sehen, und dennoch fand sie die Mutter gleich und schlang niederkniend die Arme um die Gestalt, die da auf der Kammerschwelle des Sohnes hockte.

„Mama!“ schluchzte Lore, „arme liebe Mama!“ Und sie sprang auf und zog die alte zitternde Frau zu sich empor. „Komm, komm – Du frierst; komm in Dein Bett, ich bleibe bei Dir.“

„Ob er wohl schläft, Lore? Ob er noch hier ist?“

„Ich will nachsehen Mama, aber erst komm in Deine Stube!“ Sie trug die Mutter fast hinein und legte sie auf das Bett und rieb ihr die kalten Füße.

„Mein Herz, Lore, mein Herz! Es ist, als wolle es stille stehen,“ klagte die Majorin. Dann lag sie wieder stumm, und die Tochter hielt ihre Hand, am Bette sitzend.

„Schlaf doch, Mama, schlafe doch!“

„Ach – schlafen! – – Lore, ich muß immer denken, wie Rudolf mit dem Pferde gestürzt war und sie ihn uns für todt brachten – weißt Du noch?“

„Ja, Mama!“

„Großer Gott, warum hast Du ihn damals nicht zu Dir genommen?“ murmelte die alte Frau und setzte sich im Bette hoch und rang die Hände in einander. „Der arme kranke Mann da drüben,“ fuhr sie fort, wie zu sich selbst redend, „übermorgen ist sein Geburtstag, und da hat er heimlich zu Krügers geschickt und hat für Euch Billets bestellt zum Trompeterkonzert, damit Ihr doch eine Freude habt an dem Tage. Und nun? Wie soll’s nur werden? – Lore, weine doch nicht, Du kannst ja nichts dafür. – Ach, Lore, mein Rudolf, mein Lockenköpfchen, mein Goldjunge – zum Diebe hat er sich gestempelt, zum gemeinen Diebe und nie sehe ich ihn wieder! Um Jesu willen, Lore, er wird doch sein Wort halten und wird mir die Hand geben zum Abschied?“

„Mama, ich verstehe Dich nicht!“

„Lore, er kann doch Benberg nicht im Stiche lassen? Nun hat er an Machwitz geschrieben, daß er Benberg bestohlen habe – verstehst Du? Benberg soll thun, als habe er keine Ahnung – er kommt mit einer Rüge weg, und – Rudolf geht nach Amerika – heute nacht noch. Aber,“ fuhr sie flüsternd fort mit unheimlich starren Augen, „das sagt er ja nur so, Lore, er fährt auch nach Hamburg, und da kauft er sich einen Revolver und dann geht er an ein stilles Fleckchen, und am andern Tage finden sie ihn. Siehst Du, Kind, als Dieb – als Dieb kann ein Tollen nicht leben, niemals! Mein Bruder hat’s auch so gemacht. – Lore, schreie nicht, Papa hat so leisen Schlaf. – Ach, ich wollte, ich wäre todt!“

Das Mädchen hatte sich vor dem Bette niedergeworfen und barg ihren Kopf in die Kissen. Die Mutter kam ihr in diesem Augenblick wie eine Sterbende vor.

„Mama – Mama!“ murmelte sie, und nun hob sie das verstörte Gesicht. „Mama – ich will, ich will!“ schrie sie auf. Und wieder sank ihr Kopf in die Kissen. „Schlafe, schlafe – ich komme gleich zurück,“ flüsterte sie dann.

„Du kommst gewiß wieder?“

„Ja, Mama!“

„Horche doch an seiner Thür – ging sie nicht eben? Er ist gewiß fort! Ach, Allmächtiger, und ich habe ihn nicht mehr gesehen!“

Lore sprang auf und schlich über den Flur zu des Bruders Thür. Da drinnen klangen Schritte, er war wach, er ging auf und ab. Sie faßte plötzlich die Klinke. „Mach auf!“ rief sie halblaut, „ich bin es, Lore.“

Die Thür öffnete sich; der Bruder stand vor ihr in Civilkleidung, ein kleiner, noch offner Handkoffer neben ihm am Boden.

Das Mädchen überfiel ein starkes Zittern, so daß sie auf der Schwelle niedersank.

„Was willst Du?“ fragte er.

„Und Du?“ flüsterte sie, und ihre Zähne schlugen auf einander.

Er antwortete nicht. Er nahm ein paar Photographien von dem Tische und wickelte sie in Papier. Sie hatte bei dem Scheine der dünnen Stearinkerze die Bilder erkannt, er mußte sie vom Schreibtische der Mutter drunten im Salon genommen haben, es waren die Porträts der Eltern, Käthens und das ihrige.

„Rudolf!“

„Ja, es ist nicht anders, Lore, geh nur schlafen,“ murmelte er.

„Nein! Du sollst nicht fort!“ rief sie und sprang auf die Füße, „ich will es nicht, ich könnte es nicht mit ansehen, wenn Mama –. Bleib hier – ich will – Becker –“

Er stutzte, es flog etwas Erlösendes über sein Gesicht. „Nein,“ sagte er dann niedergeschlagen, „um meinetwillen nicht.“

„So geh! Aber ich – ich nehme ihn doch!“ brach es verzweiflungsvoll von ihren Lippen.

Er ließ sich mit einem Seufzer auf den nächsten Stuhl fallen.

„Morgen früh, ganz früh,“ fuhr Lore fort, „kannst Du zu ihm gehen und ihm sagen – – nein – warte, er möcht’s nicht glauben. Hast Du Papier?“

Sie stand an dem Tische und zog unter den verschiedensten Gegenständen die noch offene Schreibmappe hervor, schob mehrere fertige Briefe zurück, rückte das Tintenfaß heran und schrieb mit fliegender Feder:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_090.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)