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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

mittlerweile der Axt verfallen. Doch hatte der Forstmeister befohlen, daß dieser Baum nicht berührt werden dürfe. Er sollte als Denkmal an die Jugendzeit Reginas immer da stehen bleiben, bis ihn endlich einmal, wenn er alt und morsch geworden wäre, ein Herbststurm mitten unter die blauen Glockenblumen und die rothen Kelche des Heidekrautes hinstrecken würde, welche auf dem Grund unter seinen Zweigen gediehen.

Trotz ihres ungestümen Verlangens nach der Weite und trotz des schwärmerischen Nachsinnens, welchem sich Regina gerne im Bereiche der Sehnsuchtstanne hingab, hätte sie das Forsthaus niemals verlassen, so lange sie noch ihren Vater dort wußte. Mehrmals hatte eine Verwandte, welche in einer deutschen Hauptstadt wohnte, den Eisenhans aufgefordert, ihr seine Tochter auf eine Weile zu überlassen. Sie würde dort Gelegenheit finden, sich in allerlei nützlichen Dingen auszubilden und was noch derlei Vorstellungen mehr sind. Der Förster wäre bereit gewesen, einzuwilligen, das Mädchen aber antwortete mit einer festen und unerschütterlichen Weigerung.

Wenn sie nun doch hoffte, in nicht allzu ferner Zeit diese Einsamkeit verlassen zu können, so gründete sich diese Hoffnung auf manche gelegentliche Aeußerung des Vaters. Der Eisenhans sprach mitunter davon, sich zur Ruhe setzen und in die Stadt hinabziehen zu wollen. Die stürmischen Winter und der Mangel an Ansprache entrangen ihm manches vorübergehende Zeichen von Mißmuth. Das alles aber war wie weggeblasen, wenn die Herren vom Forstamt in der Stadt manchmal heraufkamen und ihm mehr Beschäftigung mitbrachten, als ihm oft lieb war. Noch gründlicher verging ihm jeder Gedanke an das Stadtleben, wenn der eine oder der andere von den Waldteufeln bei ihm vorsprach. Da ging es an ein Erzählen von Geschichten, von wirklichen oder erfundenen Erlebnissen aus dem Revier, welch letztere von den trefflichen Männern so oft erzählt worden waren, bis sie selbst daran glaubten. Da hörte man von Dachsbauen und Koppelhunden, von seltsamen Begegnungen mit Wölfen, von unglaublich wirksamen Treffern u. s. w.

Gerade heute hatte sich Regina der Hoffnung hingegeben, daß ihr Vater, wenn er aus diesem schrecklichen Sturme nach Hause käme, wieder einmal seinen Plan, um einen Ruheposten nachzusuchen, ins Auge fassen und besprechen werde. Die Zeit war günstig, denn nichts konnte der Eisenhans weniger leiden, als die Bora, welche ihn am Herumgehen im Walde hinderte. War es doch mitunter so arg, daß man am hellen Tage die Fensterläden schließen und die Lampe in der Wohnstube anbrennen mußte. Dann ging der Eisenhans wie ein gefangener Löwe in seinem Käfig hin und her, brummte und wünschte sich dahin, wo der Pfeffer wächst – und wo es keine Holz- und Wilddiebe giebt. So wäre es wahrscheinlich auch an diesem Abend gekommen, wenn nicht die Geschichte mit dem Luchs dem ganzen Denken des Försters eine andere Richtung gegeben hätte.

Indessen ereignete sich etwas, wodurch der Eisenhans in seiner Erwägung des Falles gestört wurde.

Eben dämmerte es und Regina zündete die Lampe an, als die Stubenthür aufflog. Ein Windstoß drang herein und löschte das Licht wieder aus. Dieser Windstoß kam vom Flur. Eben hatte jemand die Hausthür geöffnet und strengte sich vergeblich an, sie gegen den nachdrängenden Sturm wieder zu schließen. Als der Eisenhans dies bemerkte, sprang er hinaus und half dem Eintretenden.

„Sie sind es, Herr Kurat?“ sagte der Förster, nachdem das Thor geschlossen war. „Schönen guten Abend! Ich hätte nicht gedacht, daß Sie bei einem solchen Wetter über den Weg herüberkommen würden.“

„Es ist auch schlecht genug gegangen, Förster,“ sagte der Geistliche, ein stattlicher Mann in noch rüstigen Jahren. „Ich mußte mich fortwährend an der Mauer Eures Gartens halten, sonst hätte mich die Bora über den Berg hinabgeblasen.“

Der geistliche Herr war mittlerweile in die Stube getreten, wo jetzt die Lampe wieder brannte. Regina begrüßte ihn mit ehrerbietiger Verbeugung, der Eisenhans aber wies ihm den gewohnten Platz auf dem ledernen Ruhebett an, auf welchem der Geistliche zu sitzen pflegte, wenn er, was im Winter manchmal geschah, des Abends herüberkam, um mit dem Förster ein Spielchen zu machen.

Nachdem der Gast Platz genommen hatte, sagte er:

„Ich sag’s Ihnen rundweg, Förster, heute abend hätte es mich nicht mehr daheim gelitten und wenn mir einer viel Geld geboten hätte. Ich habe wirklich Angst bekommen. Das pfeift Ihnen im Pfarrhof, daß man meinen möchte, es komme der jüngste Tag. Von einem Augenblick zum andern habe ich geglaubt, der Glockenthurm falle um und schlage mich mitsammt dem Hause nieder. Ich habe ausgehen müssen, nur um unter die Leute zu kommen.“

Der Eisenhans lächelte und sagte:

„Man sieht wohl, daß Sie den ersten Winter hieroben sind, Herr Kurat. Mit der Zeit werden Sie sich schon daran gewöhnen. Sehen Sie, bei uns ist es gar nicht so arg mit dem Heulen und Pfeifen. Das kommt davon her, weil wir tüchtige, eichene Thüren haben, die ich mir aus unseren besten Brettern habe anfertigen lassen. Ihr Herr Vorgänger aber – Gott gebe ihm die ewige Ruhe! – hat sich um das Pfarrhaus wenig gekümmert. Die Thüren sind morsch und wackelig geworden und haben Sprünge von oben nach unten bekommen. Da pfeift es dann freilich durch, wie wenn das ganze Haus eine Geige wäre und die Bora mit dem Fiedelbogen darauf spielte.“

„Sogar die Glocken haben von selbst zu läuten angefangen,“ bemerkte der Kurat.

„Ich hab’s im Walde gehört,“ sagte der Förster, „und zuerst geglaubt, der Mensch läute wieder einmal zu früh Vesper. Doch, weil wir gerade von dem Burschen sprechen, so sage ich Ihnen, Herr Kurat, daß Sie vielleicht bald etwas von ihm zu hören bekommen, was Ihnen wenig gefallen wird.“

Der Geistliche legte den Haufen Karten, welchen er bereits in der Hand hielt, wieder auf den Tisch und horchte verwundert auf.

„Der Lump soll sich in Acht nehmen!“ schrie der Förster mit so lauter Stimme, daß Regina, welche sich mit einer Näharbeit beschäftigte, erschreckt zusammenfuhr.

Der Geistliche sagte kein Wort. Er schaute den Förster, welchen er niemals in solcher Aufregung gesehen hatte, starr an. Dieser fuhr fort:

„Draußen habe ich den zusammengefrorenen Hasen, den er gefangen hat. Ein Dieb ist er. Morgen in aller Frühe werde ich ihn beim Kriminal anzeigen.“

„Das werden Sie nicht thun, Herr Förster,“ sagte nun der Geistliche. „Wegen eines Hasen wollen Sie den Mann sicherlich nicht unglücklich machen – und noch dazu seine Frau und Kinder. Was liegt denn an einem Hasen? Ich werde Ihnen den Schaden vergüten.“

Aber der Förster, der gegen die ihm Verdächtigen unerbittlich war, hatte sich bereits in einen solchen Zorn hineingeredet, daß er die Einwendungen des geistlichen Herrn vollständig überhörte.

„Wäre nur heute nacht kein solches Wolfswetter,“ fuhr der Förster fort, indem er sich umwendete und gegen das Fenster hin schaute, dessen Läden von Zeit zu Zeit unter den Borastößen einen klagenden Laut von sich gaben, „ich hätte trotzdem gute Lust, hinauszugehen und aufzupassen. Erwische ich ihn, so ist es sein Tod. Setzt er sich zur Wehre, so schieße ich ihn nieder.“

Regina erhob sich, legte ihren Arm um den Hals des Vaters und sagte:

„Aber, bedenke nur, Vater, so etwas vor dem geistlichen Herrn!“

Und zu diesem gewendet fuhr sie fort:

„Ich bitte Sie, Herr Kurat, er meint es nicht so. Der Vater ärgert sich eben, wenn draußen im Walde ein Frevel geschieht.“

Der Geistliche dachte, es sei das Klügste, für jetzt das Gespräch über diesen Gegenstand abzubrechen. Bei der Laune des Försters erschienen weitere Erörterungen unnütz.

„Spielen Sie aus, Förster!“ sagte er, indem er ein Kartenblatt in die Hand nahm.

Der Eisenhans seinerseits mochte einsehen, daß er sich zu sehr hatte gehen lassen. Stillschweigend nahm er das Spiel auf und bald hörte man nichts mehr als das eintönige Ansagen der Spielkarten.

(Fortsetzung folgt.)




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