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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Die Dame in der andern Coupéecke saß regungslos. Ihr gegenüber lag in Decken und Plaids gehüllt ein Kind und schlief. Man sah von dem kleinen Wesen nur einen vollen Schopf goldblonder Knabenhaare. Die Dame, die einen einfachen Radmantel trug und eine kleine Mütze von einer sehr billigen Pelzart, sah starr zum Fenster hinaus, und der alte Herr, dessen Blicke zuweilen dort hinüberschweiften, fand an ihr weiter nichts Bemerkenswerthes, als schönes volles Haar von nußbrauner Farbe, das sie in einem englischen Knoten trug.

Es war merkwürdig, wie furchtbar der Wagen schwankte und stieß. Das Lesen erwies sich schier als unmöglich. Die Zeitung des alten Herrn flog auf den gegenüberliegenden Sitz, und er versuchte nun ein Schläfchen zu machen. Es ist unglaublich, wie sehr einem die Cigarre fehlen kann!

Er mochte wirklich so ein wenig geschlummert haben, als ihn der Klang einer Kinderstimme wieder in die Gegenwart rief.

„Sind wir noch nicht bald bei Papa, dear mama?“ hatte das Kind gefragt ist englischer Sprache.

Die Mutter erwiderte darauf flüsternd, es solle sich ruhig verhalten, der old gentleman da drüben schlafe. Und darauf kletterte ein reizendes Kerlchen von vielleicht vier Jahren auf den Schoß der Dame, die sorglich ihren Mantel um die zierliche Knabengestalt schlug, und nun entspann sich ein leises Gespräch zwischen Mutter und Sohn, von dem gleichwohl dem Lauscher in der Ecke keine Silbe entging. Es war das für den alten Junggesellen so süß zu hören wie das Zwitschern der Schwalben in sonniger Maienzeit. Seine Gedanken gingen zurück, sechzig Jahre und mehr, zurück bis zu der Zeit, wo er als ein ebensolches Bübchen auf dem Schoß der Mutter saß und geherzt und geküßt wurde, und – Donnerwetter – obendrein war Weihnachtsabend heute!

„Und ein Pferd soll Berti bekommen von Papa?“ fragte eben die schmeichelnde Kinderstimme.

„Certainly, my sweet heart."

„Und einen Tannenbaum mit vielen Bonbons?“

„Yes, o yes! Und Papa wird sein Kindchen so lieb haben!“ Und der Junge bekam einen Kuß als Vorgeschmack von vielen andern, die noch nachfolgen sollten heute.

„Mama, Berti ist so müde,“ klagte der Kleine, „und es rumpelt so in dem Wagen, es war besser auf dem Steamer.“

„Yes, darling; aber nun sind wir bald bei Papa.“

„Mama, kennt mich Papa noch?“

„O sicher! Aber kennst Du Papa noch?“

Der Kleine schwieg. „Yes!“ sagte er dann, „Papa hat Berti geschlagen.“

„Da war mein süßer Liebling wohl unartig gewesen?“ klang es um eine Nüance leiser, wie beklommen.

„Berti weiß es nicht,“ war die Antwort.

„Du sollst aber daran nicht denken, mein Liebling, nur wie gut Papa zu Dir war!“

„Ja, Mama! Mama, weinst Du? Mama, soll ich Dir etwas vorsingen? – Soll ich singen: ‚O Glockenklang, wie lieb’ ich Dich!‘?“

„Nein, ich weine nicht; Du sollst aber nicht singen jetzt, Du kannst lieber das deutsche Gedicht sprechen, das Du heute abend Papa aufsagen willst. Nun?“

Und die klare Kinderstimme hub ohne Säumen an:

„Zur Weihnachtszeit, zur Weihnachtszeit,
Da kam wohl von dem Himmel weit
Zu seinen Menschen her der Herr.
In einer Krippe schlummert er –“

Es klang unsagbar süß aus dem Munde des kleinen Ausländers, so schwer, und doch so weich und andächtig.

Der alte Herr saß plötzlich aufrecht; in den hellen blauen Augen schimmerte es feucht. Als das Kind geendet, sprach er seltsam hastig und polternd. „Madame, Sie haben einen reizenden Jungen! Komm’ her, Bursche, und gieb mir die Hand, sag’, wie Du heißt, Du Prachtkerl, Du!“

Mutter und Kind hatten sich umgesehen. Ueber das junge sympathische Gesicht der Frau mit den traurigen Zügen glitt ein Lächeln des Stolzes.

„Geh’, gieb die Hand!“ flüsterte sie.

Der Kleine glitt gehorsam vom Schoße der Mutter und legte seine Rechte ist die fremde Männerhand.

„He? Wie heißt Du?“ polterte der alte Herr.

„Berti!“

„So? Und –“ Der Herr wollte offenbar fragen. „Wie noch?“ – besann sich aber, als er die verlegene Röthe auf den Wangen der Dame sah, und fuhr fort. „Und zum Papa willst Du? Wohin denn, Du Stift?“

„Nach Westenberg,“ klang es eigenthümlich betont, das „We“ wie „Ue“.

„Potz Tausend – da fahren wir ja zusammen, Du Mordsjunge!“

„Sind Sie bekannt – in Westenberg, mein Herr?“ fragte die Dame.

„Na ja, so oberflächlich, Gnädigste, kann ich irgendwie dienen?“

„Wenn Sie mir ein Hotel nennen wollten, nicht so theuer, mein Herr.“

„Ein Hotel? Ich denke – –“ Er brach ab und betrachtete die Fragende mit ungeheucheltem Erstaunen.

„Eine Ueberraschung –“ flüsterte die Frau, roth werdend.

„Ach ja, ich verstehe, Pardon! Nun, da ist die ‚Krone‘, wo Sie gut aufgehoben sind, Gnädigste. Was billig und was theuer ist? – Wenn man von drüben kommt, ist ja alles very cheap hierorts.“

„Ich danke Ihnen,“ flüsterte sie und zog das Kind näher an sich, das noch immer am Knie des alten Herrn lehnte. Sie sah dabei mit scheuen ängstlichen Augen an ihm vorüber.

„Ja, ja!“ nickte der und hielt den Knaben fest, „ich hab’s an Ihrer Sprache gehört, Sie sind Amerikanerin, Madame; ich möchte fast behaupten Sie sind New-Yorkerin – habe ich recht?“

Sie neigte leise den Kopf.

„Na, freut mich! Ich habe also nicht umsonst zwei Jahre drüben in allen großen Städten herum vagabondirt,“ lachte der alte Herr. „Hatten Sie gute Ueberfahrt, Madame?“

„Sehr gute,“ klang es leise, indem sie den Kopf wandte.

Der Fremde ließ sie gewähren und unterhielt sich mit dem Kinde weiter, das er auf den Schoß nahm und dem er in Ermangelung von anderen Leckerbissen ein Stückchen Lakritzen schenkte, den er Hustens halber stets in einer Blechbüchse bei sich führte. Er schien plötzlich ganz wieder mit zum Kinde geworden und lachte herzhaft über jede naive Antwort, die der Kleine gab.

„Du Mordskerl,“ sagte er endlich, „Du mußt mich morgen besuchen. Hör’ zu, ich wohne in dem nämlichen Hotel wie Du; da fragst Du den Kellner: ‚In welcher Stube wohnt der Onkel Tollen?‘“

„0nkel Tollen,“ wiederholte der Kleine.

„Und da holst Du Dir einen heiligen Christ, willst Du? – Was möchtest Du wohl?“

„Ich bekomme ein Pferd von Papa,“ antwortete der Kleine, der augenscheinlich nicht wußte, was er außerdem noch wünschen könnte.

„Donnerhagel!“ schrie jetzt der alte Herr, „da sind ja schon die Thürme von Westenberg!“ Und er setzte den Kleinen zur Erde und nestelte sich den Pelz zu, den er während der Unterhaltung aufgeknöpft hatte.

„Madame, kann ich Ihnen dienen? Hier zu Lande giebt’s Hotelomnibusse, Sie gestatten, daß ich Sie hinüber geleite?“

Nach ungefähr zehn Minuten saßen die Reisenden in dem klappernden Omnibus und fuhren auf dem holperigen Pflaster in das Städtchen ein, dessen Gassen heute mit Küchenduft angefüllt waren, der aus allen Häusern quoll. Im Vorsaal der „Krone“ trennte man sich; die junge Frau schritt, das trippelnde Jungchen an der Hand, in den zweiten Stock hinauf, Excellenz von Tollen nach seinem geheizten Zimmer in der ersten Etage, das er auf telegraphische Ordre bereit fand; er bestellte sich Grog, eine halbe Flasche Rothwein und ein Beefsteak und beauftragte zugleich den Kellner, zu ermitteln, wer die fremde Dame sei, die eben mit ihm angekommen.

Der weißblonde Jüngling erschien bereits nach einigen Minuten wieder mit dem Fremdenbuch. „Belieben, Excellenz –“

Der alte Herr that einen Blick in das Buch und las da, von einer energischen echt englischen Hand geschrieben. „Missis Ellen Becker mit Sohn. New-York.“

„Hm!“ sagte er, indem er das Buch zurückgab, „so klug, als vorher.“ – Becker – was ist Becker? So heißen hundert Menschen, und tausend, sogar sein Liebling, die Lore, jetzt. Ja, zum Millionen Schock noch einmal, wo blieb das Essen?

Er ging nervös in dem kahlen Hotelzimmer umher.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_168.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)