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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

der Andächtigen langsam daher kam. Jetzt sah er zur Seite und trat bestürzt einen Schritt zurück.

Lore? Lore, wie er sie einst so oft gesehen in dem dünnen Wintermantel, den er so gut kannte, mit den blonden Löckchen, die so wie hingehaucht über der weißen Stirn schwebten, mit dem alten süßen verschleierten Ausdruck der Augen unter den halbgesenkten Wimpern, so mädchenhaft wie damals, als sie seine Lore ward. Er fühlte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Was kam sie ihm so in den Weg?

Sie ging wie im Traume die Straßen dahin und wußte selbst nicht, wie rasch sie anlangte vor der niedrigen Hausthür daheim. Sie trat in die Eßstube. Die verstörten Augen der Mutter irrten ihr entgegen.

„Lore, um Gott, Lore!“

Lore weinte nicht. Sie knieete vor der alten Dame nieder und flüsterte, sie umfassend:

„Daheim, wieder daheim! Ach, Mama Du weißt nicht, was das heißt für mich!“

Frau von Tollen war still. Sie bückte sich herunter und küßte weinend die schöne klare Stirn der Tochter, es war eine stumme rührende Bitte um Verzeihung. Ihre Lore, ihre schöne stolze Lore, wie furchtbar war an ihr gesündigt worden, und sie, die eigene Mutter, sie hatte die Hand dazu geboten gegen ihr besseres Wissen!

„Mama,“ bat Lore, „weine doch nicht! Mir ist so leicht, so leicht heute – –.“




Der General mußte, als er wieder das Beckersche Haus betrat, zunächst eine Stunde antichambrieren und Tante Melitta leistete ihm Gesellschaft dabei. Die alte Dame war in einem furchtbar aufgeregten Zustande, es konnte ihr ja nichts Schlimmeres begegnen, als irgend etwas nicht zu erfahren, und hier erfuhr sie nun wirklich nichts. Sie wußte nur, daß etwas passirt sei, etwas Ungeheuerliches, Niedagewesenes, aber alle Versuche, Näheres zu erkunden, scheiterten an des Bruders Schweigen. Er ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, langsamen Schrittes in dem veilchenblauen Salon auf und ab und beachtete die Fragen der Schwester absolut nicht.

„Jesus, der Rudolf! Es wird doch nicht wieder der Rudolf sein?“ schluchzte sie endlich, „ach Gott, sag’s mir, Wilhelm – nicht wahr, er will abermals von Beckers Geld haben? Mein Gott, wenn sie auch reich sind – allzu oft darf man –“

„So? Sie haben ihm die Schulden bezahlt?“ fragte der General scheinbar gleichgültig.

„Ja, Wilhelm, er wäre eben sonst – – aber das weißt Du wohl gar nicht?“ Und das alte Fräulein, heilfroh, daß sie sich wichtig machen konnte, kam dicht zu ihm herüber, „er wäre doch im andern Falle mit Schimpf und Schande, weißt Du –“ flüsterte sie, und als der General stehen blieb, haspelte sie die ganze traurige Litanei herunter und drehte ihr Taschentuch dabei in den Händen vor Eifer. „Gottlob,“ schloß sie, „Leo hat’s nicht mehr erfahren, durch Lores Verlobung kam’s noch in die Reihe,“ und sie nickte, daß die Löckchen flogen, „ja, durch die Verlobung!“

„Und die Verlobung kam wohl durch diese erbauliche Geschichte in die Reihe?“ fragte er grollend und folgte ihr bis zu dem Lehnstuhl, in dem sie Platz genommen hatte, und dort blieb er stehen und schaute sie an mit finstern Augen.

Die Schwester antwortete nicht.

„He, Melitta, hat das Mädchen denn aus freien Stücken ja gesagt?“ fragte er.

Die gutmüthige kleine Dame sah in diesem Augenblick so hilflos aus wie ein Kind.

„Aber, Wilhelm, wie Du einen angucken kannst! – Sie hat doch schließlich ja gesagt – es ist doch keine Kleinigkeit, ob ein Tollen als – – ich weiß nicht, Wilhelm, wie ich Rudolfs Vergehen bezeichnen soll – den bunten Rock auszieht – und Du siehst, Lore hat eine gute Partie gemacht und –“

„Schon gut, ich weiß; sie hat also schließlich ja gesagt!“

Er sprach weiter keine Silbe; es war ihm plötzlich alles klar.

Endlich erschien Frau Elfriede. Tante Melitta wurde ersucht, in einem andern Zimmer zu warten.

Sie ging voller Zorn und mußte es erleben, daß die polnischen Karpfen in der Küche verbrodelten, daß der Weihnachtsbaum im Tanzsaal unangezündet blieb, daß die kostbaren Geschenke vergeblich ihrer Empfänger harrten. Wozu hatte sie nun Schlummerrollen und Kissen zu halben Dutzenden gefertigt? Das Aergste aber kam noch. Nach zwei Stunden peinvollen Wartens ging ihr Bruder aus dem Hause, ohne nach ihr zu fragen, und Frau Becker ließ ihr durch den Diener bestellen, sie sei so angegriffen, daß sie Fräulein von Tollen nicht mehr sprechen könne. Tante Melitta hing seufzend ihren Mantel um, warf noch einen Blick in den schwach erhellten Weihnachtssaal mit all den bunten Herrlichkeiten und ging die Treppe hinunter, an Lores schnippischer Jungfer vorüber, die dort flüsternd mit dem Diener stand. Die Leute hatten neugierig freche Gesichter, und sie sahen ihr nach und lachten. – Das war ein Weihnachtsabend!

Als sie durch den Park schritt, schlug es acht Uhr. Aus dem Fenster der Gärtnerswohnung leuchtete ein strahlend heller Weihnachtsbaum. Ja, da gab’s doch noch ein Freuen!

Vor ihrer Hausthür fand sie eine Minute später eine schlanke Gestalt, die unverwandt das Schönbergsche Haus ansah. – Drunten im Wohnzimmer der Frau Pastorin war Licht, und im Hausflur, den man übersehen konnte, da die Thür weit geöffnet stand, hatten die Korrendejungen eben die Lichterpyramide angezündet und sangen ein Weihnachtslied.

„Käthe, Du?“ fragte Tante Melitta erstaunt.

„Ja,“ sagte das Mädchen, ohne den Blick von drüben abzuwenden, „ich warte hier schon eine ganze Weile auf Dich. Man ist ja wie verrathen und verkauft – was ist denn eigentlich passirt? Die projektirte Weihnachtsfamilienfeier ins Wasser gefallen – Lore plötzlich zu Hause – Mama in Thränen und der Onkel wie eine Gewitterwolke – – –! Kann ich mit hinaufkommen, Tante?“

„Meinetwegen, Käthe; aber es ist kalt bei mir und ich hab’ nicht einmal ein Stückchen Pfefferkuchen im Hause, nach Weihnacht schmeckt’s nicht bei mir heute.“

„Als ob’s bei uns danach schmeckte,“ erwiderte Käthe bitter, und als eben der Gesang drüben verstummte, folgte sie der kleinen Tante in das Haus, setzte sich droben im ungeheizten Zimmer ans Fenster und sah mit brennenden Augen auf die dunkeln Giebelfenster da drüben. Er war unten bei seiner Mutter, da roch es nach Tannengrün und Wachskerzen, da war das Glück. – Käthe ballte die Fäuste zusammen und sagte halblaut vor sich hin: „Uebers Jahr will ich da drüben sein, ich will – ich will!“




Der General war indessen Frau Becker gegenüber ganz der alte Soldat. Er entwickelte seine strategischen Talente und begann zunächst zu rekognoscieren.

Die alte Dame saß in unendlich kampfbereiter Haltung auf dem gelben geblümten Damastsofa ihres Boudoirs, sie hatte die Arme untereinander geschlagen und den Kopf in den Nacken zurückgebogen. Ueber ihren vom Weinen verschwommenen plumpen Zügen aber lag im Gegensatz hierzu ein Schein unverschuldeten Gekränktseins und sanfter Wehmuth.

„Gnädige Frau,“ begann der General, „das sind so Sachen – – ja, ja, Sie brauchen mir gar nichts darüber zu sagen, ich bin ein alter Mann, ich kenne die Welt. Freilich: Jugend hat keine Tugend! Sie hatten also die Dame in Ihrem Hause, gnädige Frau?“

„Ja wohl,“ antwortete Frau Becker seufzend, „und Gott weiß, wenn ich bei ihrem Eintritt geahnt, was mit ihr über unsere Schwelle kam, ich hätte sie sofort wieder –.“ Sie machte eine entsprechende Handbewegung.

„Natürlich, gnädige Frau, das läßt sich ja denken. Sie hatten gewiß viel Unbequemlichkeiten und Aerger?“

„Ach, Gott soll es wissen,“ klagte sie. „Erst der Trödel, als Adalbert sich in sie verliebte – ich sagte ihm immerzu: ‚Laß die Dummheiten! Derartige Mädchen machen Ansprüche; Du wirst’s bereuen!‘ Aber die Kinder wissen alles besser! – Nachher, wie er dann seinen Willen durchgesetzt, da fing das Unglück an. Sie schrieb alle Naselang um Geld; diese Damen brauchen ja immer nochmal so viel wie honette Frauen. Sie machte eine förmliche Daumenschraube aus ihren Beziehungen zu Adalbert und des Kindes wegen gab man ja immer!“

„Ach, Sie wußten, daß Sie ein Enkelchen besitzen?“

„Ein Enkelchen? Excellenz, ich muß bitten!“ Die kleine dicke Nase der Dame zog sich empört in die Höhe. „Wir hatten uns

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_203.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)