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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

diese Enttäuschung bereiten, sie der Verbitterung preisgeben? Sie werden glücklicher sein, wenn sie sich bald damit bescheiden, ihr Leben einsam zu führen.“

„Aber sie ist so jung,“ bat die Frau Professor vor.

„Und ich werde alt,“ sprach er gewichtig. „Ich konnte erst spät daran denken, mich zu verloben, nach zehnjähriger Brautschaft erst verheirathen. Es wird Zeit, daß ich mein einziges Kind versorge. Schätze zu sammeln vermag ein deutscher Bücherwurm nicht. Aber in Tannenroda können wir einfach leben; ich vermag die Zinsen unseres kleinen Kapitals zurückzulegen, ein Dach über den Kopf dafür zu schaffen, eine Kuh in den Stall, ein Stück Wiese, ein Stück Kartoffelland. Das ist mehr werth als ein Dutzend Cotillonsträußchen auf den Traubenbällen.“

„Kartoffeln bauen, Kühe melken? Entsetzlich!“ klagte die Dame. „Warum haben Sie sie nicht ausbilden lassen zu einer Lehrerin oder irgend etwas Aehnlichem?“

Er zuckte die Achseln. „Zu einer Lehrerin? Lebende Sprachen sind da die Hauptsache, und über dem Französischen ist sie eingeschlafen. Ja! Mittelhochdeutsch lernte sie von selbst, wie auch bei unseren kleinen Reisen alle Dialekte. Sie hat ein sehr feines Gefühl für die Unterschiede zwischen denselben. Am liebsten betete sie als Kind das gothische Vaterunser: ‚Atta unsar, thu in himinam‘. Für weibliche Handarbeiten? Sie war niemals dazu zu bringen, eine Tasche aus Sammet und Seide zur Aufbewahrung eines Wischlappens zu verfertigen; aber gesponnen hat sie von ihrem fünften Jahre an. Auch zur Stütze der Hausfrau, wie man die Haushälterin jetzt nennt, paßt sie nicht. Sie kocht zwar, aber es macht ihr Spaß, den Topf auf dem alten Dreifuß in das Herdfeuer zu setzen. Sie ist eben vierhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen,“ schloß er ganz ergebungsvoll.

Die Frau Professor schüttelte den Kopf. „Sie müssen in dem entlegenen Waldort auf alle Annehmlichkeiten verzichten, welche das moderne Leben mit sich bringt,“ warnte sie.

Er lachte gutmüthig. „Zum Beispiel auf die neuesten Kohlenöfen? Ich kehre mit Freuden zu meinen guten alten Kachelöfen mit ihren harzigen Scheiten zurück. Oder auf die wie ein Pulverfaß explodirenden Petroleumlampen? Ich sage Ihnen, die Erfinder unserer Zeit sind vom lieben Gott mit keiner Nase versehen worden; um ihre Werke herum riecht es immer, als statte Beelzebub eine Visite ab.“

Er drückte der würdigen Frau Professor dankbar die Hand für alle gutgemeinten Einwürfe. Dann ging sie, das Herz voll tiefen Mitleides für die arme Sif. –

Diese hatte sich einstweilen auf ihren Lieblingsplatz zurückgezogen. Das war ein Stück alte Stadtmauer, die den Hof abschloß. Auf zerbröckelten Stufen stieg man zu dem bemoosten Bollwerk empor. Als Kind hatte sie das Stachelbeerbüschchen geplündert, das aus einer Spalte herausgrünte und eben jetzt wieder verheißungsvoll mit Blüthenglöckchen behangen war. Dann in späteren Jahren, als ihres Vaters Liebhaberei für die deutsche Vergangenheit ihr jeden alten Thurm mit seinem blasenden Wächter bevölkerte; stellte sie Betrachtungen an, welch ein wehrhafter Mann wohl dereinst hinter dem tiefen Einschnitt der Zinnen gestanden haben möchte in Krebs und Sturmhaube, mit Armbrust oder langem Feuerrohr gewaffnet.

An ihrem sechzehnten Geburtstage wurde ihr die Offenbarung bescheert, wie sie sich denselben zu denken habe. Sie war eben in ihr neues blaßblaues Kleid, das Geschenk ihres Vaters, geschlüpft und hinaus in den geräumigen Hof spaziert, damit auch die übrigen Hausbewohner den Putz bewundern konnten, da tönte über die Mauer von fernher kriegerische Musik, die sich gleichsam auf rollendem Hufschlag wiegte. Sie schallte näher und näher.

„Sie kommen!“ rief das Stubenmädchen der Frau Professor der Köchin im Parterre zu, die eben den Geburtstagsbraten spickte.

„Wer denn?“ fragte die.

Das Stubenmädchen tippte an die Stirn, als könnte solche Frage nur eine gänzlich mit Dummheit Geschlagene thun. „Na, wer wird denn kommen?“

Der Köchin ging ein Licht auf. „Ach so! Soldaten! Sie ziehen durch ins Manöver.“

Und nun liefen beide Mädchen, daß sie die Pantöffelchen verloren, und stürmten zum alten Ausfallpförtchen hinaus an die vorüberführende Chaussee.

Sif aber flog das Steintreppchen empor auf ihren Luginsland.

Die Kesselpauken dröhnten, die Trompeten schmetterten beim Zuge durch die Stadt. Immer mächtiger würde das Getön und das Gerassel. Die Mauer begann zu beben bei dem Anrücken der gepanzerten Reiter. Sahen sie nicht in den blitzenden Harnischen und Helmen aus, als sprengten sie gerade aus dem Mittelalter hervor?

Geblendet, entzückt schaute Sif auf das prächtige Schauspiel, weit hatte sie sich vorgebogen, daß die schweren Zöpfe über den Zinnenrand hinweg sich schlängelten.

Da sah der eine Kürassier herüber. Welch schönes dunkles Gesicht schaute unter dem Helm hervor! Wie mannhaft kleidete ihn der braune Vollbart! Wie prächtig stimmte der weiße Rock, der gelbe Kragen dazu! Blondinen haben immer eine kleine Schwäche für brünette Männer, und Sif mochte die gezwirbelten Bärtchen der Studenten nicht leiden.

Einen Augenblick sahen beide sich an. Dann lachte er und rief mit lauter Stimme herüber:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin – ahi!“

Sie wunderte sich nicht über die mittelhochdeutsche Anrede; sie zog sich nicht scheu zurück; sie bemerkte kaum das Lachen in den sonngebräunten Gesichtern der andern Reiter. Sie war für einen Augenblick der Gegenwart entrückt.

Da ertönte ein schneidiges Kommandowort. Der Reiter nahm sein starkes Pferd zusammen und setzte es in Trab. Das holde Bild aus der romantischen Vergangenheit zerrann; die Wirklichkeit der nüchternsten aller Zeitepochen trat wieder in ihr Recht. Sif stand nicht auf dem Söller ihrer väterlichen Burg, sondern in der Lücke einer zerfallenen Stadtmauer; keine blühende Linde spendete süßen Duft, ein Beerbüschchen griff mit spitzen Stacheln in ihr Kleid. Und wo war der Ritter, der jahrelang sonder anderen Dank als einen holden Blick der Dame diente? Dort zog er hin, der Dienstpflicht zu genügen, die das Vaterland von ihm heischte.

Aber er hatte doch mittelhochdeutsch gesprochen! Und warum nicht? Die jungen Professoren und Dozenten steckten ja alle auch im Waffenrock. Wer wußte, welches Licht der Wissenschaft es war, das eben ihren Augen entschwand und sich nicht ein einziges Mal mehr nach ihr umblicken durfte.

Ein Zeitraum von drei Jahren lag zwischen jenem Morgen und heut. Sie hatte immer gehofft, ihn einmal wiederzusehen. Oft kamen junge Gelehrte, um die Bibliothek zu benutzen, welche besonders reich an Handschriften der Minnesänger war. Dann schaute sie auf die abgegebenen Visitenkarten, ob nicht außer denn Doktor- oder Professortitel zu lesen war: Reservelieutenant bei den Kürassieren.

Sif schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie nur träumen können, unter den Millionen Soldaten den einen Wehrmann zufällig wieder zu finden?

Sie seufzte lächelnd. Es war nur ein flüchtiges Traumbild, ein zerfließendes Nebelwölkchen gewesen, wie das, welches dort drüben in weiter Ferne die Berge umwebte, die nun ihre Heimath werden sollten.

Ihre Augen blieben daran haften. Jene hohe Kuppe schaute auf Tannenroda herab. In ihrem geheimnißvollen blauen Duftschleier barg sich die kleine deutsche Märchengestalt, die das Glück ihrer frühesten Kindheit gewesen war: das Purzelmännchen. Sie meinte noch die sanfte Stimme zu hören, die ihr davon im Einschlafen gesprochen hatte. Dann schüttelte sie das blonde Haupt noch einmal. Was alles doch sich in dem Kopf zusammenfinden konnte in so kurzer Frist: ein schöner großer Kürassier und ein kleiner Berggeist! Was hatten die mit einander zu schaffen?


Die Zeit bis zum Umzug ging schnell hin unter Verabschiedungen von Büchern und Menschen. Dann kam die Trennung von dem Grabe der früh verstorbenen Gattin des Doktor Ehrlich. Er stand mit Sif davor und empfahl der Fichte, die er dem Kind des Gebirges darauf gepflanzt hatte, treue Hut. Zuletzt brachten die Studenten das Abschiedsständchen. Sif sang ruhig mit ihrer tiefen Stimme das Gaudeamus nach. Sie war nicht traurig. An den Studenten gefiel ihr nur der alterthümliche Wichs: hohe Stiefel, Schärpe und Rapier.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_367.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)