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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Als der festliche Zug sich auflöste, intonirte der eifrige Pflastertreter mit dem blonden gezwirbelten Bärtchen ärgerlich ein Liedchen von einem ledernen Herrn Papa. Sif achtete nicht darauf, und der lederne Sänger hatte es auch schnell vergessen; denn an der Straßenecke küßte er ein rothwangiges Dienstmädchen nolens volens ab.

Zum Entsetzen der Frau Professor wies der Bibliothekar den angerathenen Packer zurück. Ueber die Möbelwagen lachte er. „Die Gebäude fallen rückwärts herab, wenn es an das Steigen geht. Wir ziehen in altmodischer Weise um.“

Er bestellte bei dem Holzhändler in Tannenroda die Wagen mit den berggewohnten Gespannen. Darauf wurden nach altem Brauch die Möbel in Heu und Stroh gedackt. Selbst der wacklige Küchenschemel mußte mitfahren. „Man jagt auch keinen treuen Hund vor die Thür,“ sagte der Bibliothekar. Unter „Hüh!“ und „Hott!“ zogen die mit Planen überspannten Gefährte zum Stadtthor hinaus.

An einem frischen Maimorgen bestiegen Vater und Tochter eine kleine Chaise, die ebenfalls von dem Holzhändler geschickt wurde. „Was hilft es, mit der Eisenbahn das Gebirge zu umkreisen? Einmal muß doch hinauf gekraxelt werden. Also lieber gleich den geraden Weg eingeschlagen! Wir reisen auch auf altmodische Weise,“ sagte vergnügt der Bibliothekar, drückte die graue Reisemütze über die Stirn, und fort ging’s durch die noch stillen, schlafenden Straßen hinaus, dem Gebirg zu.

Ja, es war das altmodische Reisen, wo eine Pappel stundenlang das Ziel der Augen blieb; wo es schien, als käme man, niemals der Bergkette näher; wo die Mittagsstation nach dem Bedürfniß der Pferde gewählt wurde, die Reisenden an Schinken und Wurst, die für die Ewigkeit geräuchert waren, sich genügen lassen mußten; wo aber auch die pflügenden Bauern auf den Feldern für eine kurze Spanne Zeit nahe traten mit ihren schwieligen Händen, wo Veilchenduft plötzlich durch den Wagen strich, der Lerchenjubel aus den Lüften herein schallte.

Endlich ging es in die Waldthäler hinein. Der Boden hob sich. Statt der weiß blühenden Schlehenbüsche kauerte Wachholder am Rand des Weges. Gleich Säulenreihen standen die Fichten zu beiden Seiten; wie Speerspitzen ragten ihre Gipfel in den blauen Himmel. Zuweilen traten sie auseinander und gaben den Blick frei auf einen Eisenhammer mit glühendem Feuerherzen oder eine Sägemühle, die emsig an einem schäumenden Bach die langen Fichtenstämme zerschnitt in weiß leuchtende Bretter zu Wiegen und Särgen.

Einmal kam es durch den Wald herangebraust wie die wilde Jagd. Ein Hirsch brach durch die Fichten und jagte über den Weg waldein. Sif war erschrocken, aber ihr Vater rief begeistert: „Welch glückverheißender Angang! Und sieh! Dort geht auch ein Jägersmann, wie sich’s in dem Wald gehört. Er ist der junge Forstgehilfe aus Tannenroda. Ich glaube gar, er pflückt Vergißmeinnicht am Bach. Da ist’s kein Wunder, wenn die Hirsche auf der Landstraße spazieren gehen.“

Die Sonne neigte sich schon, als das Wägelchen um eine Waldecke bog und Tannenroda vor ihnen lag.

In dieser Höhe erschien das Thal flach; es war nur eine Einsenkung zwischen den Gebirgskuppen. Aber die scheinbar niedrigen Hügel, welche den Wiesenplan mit ihren Nadelbäumen umgrenzten, führten drunten stolze Bergesnamen. Nur ein Haupt erhob sich höher. Majestätisch fluthete sein schwarzgrüner Tannenmantel bis herab in die Wiese. Eingebettet in das junge, von Maßliebchen durchflochtene Gras lag ein stiller Wasserspiegel. Eine tiefe Schlucht zog sich vom Gipfel des Berges herab. Bläulicher Nebel webte schon darinnen; aber der Gipfel war umstrahlt von dem feurigen Abendroth.

„Das ist die Brandkuppe,“ sagte der Bibliothekar, „eine uralte Opferstätte. Noch heute zündet das Volk, wenn es ein Fest feiern will, dort ein Feuer an, wie sonst zu seiner Götter Ehren. Und das ist der Heidenteich, wo unsere Vorfahren getauft worden sind, wo ihnen ihr Irrglaube abgewaschen wurde. Nur ein kleiner Götze hat sich nicht so schnell bezwingen lassen; weißt Du? unser tapferes Purzelmännchen! Das trieb noch in meiner Jugend sein spukhaftes Wesen in der Schlucht dort. Es wohnte in einem alten Baumstumpf an dem abschüssigen Weg und erhob von jedem, der sich im Wald etwas geholt hatte, seine Abgabe; eine handvoll Beeren, Harz, Tannenzapfen mußten ihm in den hohlen Stamm geworfen werden. Wer es vergaß, der purzelte in der steilen Schlucht hin, und sein eingeheimstes Gut verlief sich in Heide und Moos. Darum heißt der Waldort der ‚Purzel‘. Meine Mutter hat noch pünktlich den Brauch geübt, wenn sie Erdbeeren suchte, um Ihren Schatz, den jungen Jägerburschen, zu treffen.“

Der Wagen rumpelte in den Marktflecken hinein. Ein schäumender Bach rauschte ihnen entgegen an der bemoosten Mühle vorüber. In seinen klaren Wellen standen barfüßige Kinder und hoben vorsichtig die Kiesel auf, um nach schnellenden Steinbeißern zu haschen, unbekümmert darum, daß ihre rosigen Gliederchen überall aus den groben Röcklein schauten. Das Kleinste trug nur einen Aermel als Zeichen, daß es nicht unter die wilden Völkerschaften zu rechnen sei. Sie schauten zu den Reisenden auf, indem sie die Hände schützend über die blinzelnden Augen, das zusammengezogene Näschen hielten.

„Grüß Gott!“ riefen sie insgesammt.

Graue schindelgedeckte Häuser, aus denen nur hier und da ein höheres altersdunkles Ziegeldach aufragte, reihten sich aneinander. Aber überall guckten lustige dunkeläugige Gesichter aus den Fenstern, welche rings umhangen waren mit kleinen Vogelbauern, aus Fichtenholz geschnitzt, in denen grüne und rothe Kreuzschnäbel ihre Kletterkunststücke machten.

Nun kam der breite, aber niedrige Kirchthurm, welcher sich klüglich, der Winterstürme gewärtig, duckte. In seinen Schutz geschmiegt, stand die Pfarre. Unter den sprossenden Hollunderbäumen, welche die Thür überwölbten, komplimentirte sich eben ein ältlicher breitschulteriger Herr heraus. Die Frau Pfarrerin, deren ganzes Gesicht freudig glänzte, ein junges Mädchen mit verdrießlich hängender kirschrother Unterlippe und einer unternehmend emporstrebenden grünen Schleife am hochgethürmten schwarzen Haarschöpfchen, sahen ihm nach.

„Der Herr Apotheker,“ sagte der Bibliothekar und nahm die Mütze ab, als der Wagen an dem Herrn vorüber fuhr.

„G’horschamer Diener,“ erwiderte dieser den Gruß, während er die heiße Stirn mit großem buntseidenen Tuch kühlte.

„Sieh!“ rief der Bibliothekar, „das dort ist unser Haus, wo meine Mutter als Mädchen und dann als Witwe lebte. Das Hirschgeweih über der Thür hat mein Vater erbeutet und – potztausend! – eine Guirlande hängt daran. Da steht auch die Hulda!“

Der Wagen hielt vor einem Haus, grau, wie altes Fichtenholz sich färbt. Der hohe Giebel ragte in den klaren Abendhimmel hinein. Von den ausgetretenen Steinstufen, die zu der rundbogigen Hauspforte führten, sprang flink ein zierliches nußbraunes Mädchen herab, das zwar keine Strümpfe, aber dafür ein buntes Kopftuch mit mächtiger Schleife über der Stirn trug.

„Grüß Gott!“ rief sie, und ihre Stimme klang so weich und singend, als habe sie den Ton einem Waldvöglein abgelauscht.

Vor dem Nachbarhaus, das ein Ladenfenster hatte, stand ein junger kräftiger Mann. An der Art, wie sein schwarzer Schnauzbart empor gedreht war, gleich denen der Offiziere in der Universitätsstadt, und an der Haltung, in welcher er grüßte, den Daumen an der Hosennaht, war zu erkennen, daß er den blauen Rock erst vor kurzer Zeit ausgezogen hatte.

„Das ist der Schwumprich,“ erklärte der Bibliothekar seiner Tochter.

Der Schwumprich wäre wohl den neuen Nachbarn gern zu Hilfe geeilt; aber Hulda warf ihm über die Schulter ein kurzes: „Das ist meine Sache!“ zu, vor dem er zurückwich.

Sie stellte auch trotz ihrer zierlichen Gestalt den alten Herrn kräftig auf seine eingeschlafenen Beine, führte ihn in das Haus und eilte dann zu Sif zurück, die sich unter Kistchen, Schachteln und Taschen hervor arbeitete. Die Kleine bepackte sich bis unter die stumpfe, aber hübsche Nase; die nackten schmalen Füße flogen die Stufen auf und ab; dabei hafteten ihre Augen zutraulich und schüchtern zugleich an Sif wie die einer jungen Drossel.

Als Sif beim Eintritt in das Haus ihr freundlich die Hand bot, glühten ihre Wangen gleich blühenden Fichtenzäpfchen. Sorgfältig geleitete sie ihr Fräulein die weißgescheuerte Wendeltreppe hinauf in die Stube.

Dort sah es schon wohnlich aus. Hulda hatte von den vorher angelangten Gepäckwagen, die im weiten Hofraum ausgespannt standen, den nothwendigsten Hausrath abladen lassen und untergebracht. Der Bibliothekar saß seelenvergnügt in seinem gewohnten Großvaterstuhl.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_368.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)