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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Herzen des Freundes, mit dem seelisch zergliedernden Verstand des Schriftstellers.

Er begriff alles und nichts. Wenn er sich auf die tiefstgründige Art klar gemacht hatte, daß hier zwei gleichartige, aus genau denselben Elementen zusammengesetzte Wesen sich unwiderstehlich anzögen und doch, so wie sie einander nahe kamen, feindlich aneinanderstießen, stand er doch wieder vor der Räthselfrage, ob sie imstande sein würden, ohne einander zu leben.

Er fürchtete das Schlimmste für den Freund, wenn es nicht gelingen sollte, ihn mit Gerda zu versöhnen. Aber wenn er sich Gerda und Alfred vermählt dachte, zitterte sein Herz vor Angst.

Und doch, das Kind, der Knabe, den beide vergötterten, sollte er nicht der Zauberer sein können, der ihre Herzen friedlich und fügsam machte?

Zahllose Male war er in Versuchung, wieder an Gerda zu schreiben; aber er besann sich, daß, wenn die Freundschaft zwischen ihm und Alfred auch grenzenlos sei, es doch für ihn dieser Frau gegenüber Grenzen gab, jenseits deren die Unbescheidenheit oder Zudringlichkeit anfing.

Von Tag zu Tag wartete er auf Nachrichten von Alfred. Aber dieser schwieg, und Marbod wußte, daß auch eine Bitte ihn nicht zum Reden bringen würde, wenn er schweigen wollte. An den tollen Einfall Alfreds, sich aus dieser Verzweiflungsstimmung heraus in den vermeintlichen „Friedenshafen“ einer Ehe zu stürzen, dachte er gar nicht mehr.

Der ganze Monat September verging, und Marbod suchte sich durch Arbeit über die von Sorgengrübeleien erstickte Einsamkeit hinweg zu helfen. Viele Tagesstunden nahm seine Thätigkeit als Rechtskonsulent der Versicherungsgesellschaft in Anspruch. Den Abend brachte er zumeist am Schreibtisch zu, wo sich ihm eine Novelle gestaltete, in welcher er, nicht freier Wahl, sondern unabweisbarem seelischen Zwang folgend, wie er den berufenen Menschenschilderer zuweilen regiert, die feindliche Liebe Gerdas und Alfreds darstellte. Und wenn er ihnen auch ein fremdes Kleid anzog, sie waren es doch, ganz sie. Während er sich schaffend in ihre Kämpfe vertiefte, erwuchsen ihm ungeheure Schwierigkeiten, denn auch sein prophetisches Dichterauge vermochte nicht voraus zu erkennen, welche Lösung wahr, natürlich oder wenigstens glaubhaft sei. Die Arbeit wurde ihm schließlich zur Qual. Aber ein seltsamer Gedanke, der ihm verheißungsvoll in den Kopf gekommen, ließ ihn sie dennoch fortführen. Er wollte später Gerda das Manuskript senden, ohne ein[WS 1] Wort dabei. Sie würde lesen und vielleicht, in einem Spiegel das Schreckbild ihrer vulkanischen Naturen erkennend, versuchen, ihn und sich zu bemeistern.

Gerade als Marbod vor der Entscheidung stand, ob er die Nothwendigkeit einer glücklichen oder tragischen Lösung darstellen sollte, kam ein Brief von Alfred.

Marbod wog das langerwartete Couvert in der Hand, sah, daß es nicht aus Berlin, sondern aus Frankfurt am Main kam und am zweiten Oktober abgestempelt war. Und dann las er mit einer wahren Herzensbeklemmung:

„Seit Wochen, mein alter Junge, habe ich geschwiegen. Ich habe das Entscheidendste gethan, ohne Deinen Zuspruch zu erbitten, so, geradeaus gesagt, ohne ihn hören zu wollen. Denn ich war in einer Stimmung, wo man noch demjenigen zürnt, der es sich etwa beikommen läßt, einem in die Arme zu fallen. Ich aber wollte und mußte unaufgehalten dem Ziele zurennen, an welchem ich Herzensfrieden zu finden hoffe. Zwischen mir und ihr, die Du kennst, muß ein Abgrund sich aufthun.

Wenn Du diese Zeilen liest, ist es geschehen, oder nicht mehr zu verhindern. ich verheirathe mich am vierten Oktober. Du weißt, die Tochter jener Frau, die mein Vater geliebt hat. Wenn Du Deine aufsteigenden Bedenklichkeiten mit einer Sentimentalität beschwichtigen kannst, sage Dir, daß der Segen theurer Geister uns umschwebt.

Es ist vielleicht eine krankhafte Laune, daß mich der Gedanke an weiße Brautgewänder, Schleier, Kranz und Orgelton ganz elend macht. Jedenfalls in Baden soll es nicht geschehen. Aber um ans-tändig reisen zu können, wie Mietze Ravenswann sagen würde, lassen wir uns hier civiliter verbinden. Die Kirchenweihe – für ein Mädchengemüth ist und bleibt das nun einmal die eigentliche Trauung, und nicht der Mund des Standesbeamten, sondern der Priestermund spricht für sie das rechtskräftig nachwirkende Wort – die Kirchenweihe also soll unser Bund in Berlin haben unter Deiner Zeugenschaft. Besorge alles. Kirche, Prediger, Zeugen. Der eine bist Du. Zum zweiten hätte ich mit Absicht gern jemand, der ihrem Kreise angehört, also vielleicht Prasch. Und dann gehe zu meiner Frau Wirthin und vermelde ihr, daß meine alte Wohnung nicht mehr genüge, ich wolle zwei Zimmer dazu haben. Ist bei ihr nichts frei, so miethe was anderes anständig Möbliertes. Vier Zimmer und ein Mädchenzimmer sind nöthig.

Wir kommen am fünften Oktober mittags zwei Uhr an und erwarten Dich auf dem Bahnhof Friedrichstraße.

Glaube mit, nun werde ich ruhig.
  Dein Alfred.“


Mit einer immer wachsenden Bekümmerniß las Marbod diesen Brief. Zuerst fand er ihn frivol, aber das war der Eindruck, der mit Sekundenschnelle kam und ging. Er kannte den Freund und wußte, daß ihm leichte Worte von bitter zuckenden Lippen gehen konnten.

Die oberflächliche Art der Anordnungen für eine Kirchentrauung erweckten in Marbod sogleich den Vorsatz, nichts zu thun, denn er sagte sich, das neue Ehepaar könne sich das selbst bestellen, wie die junge Frau es am liebsten haben wollte.

An dieser jungen Frau hafteten seine Gedanken am längsten. Wie hatte ein Mädchen von Gemüth und Urtheilsfähigkeit in eine so überstürzte Ehe willigen können, noch dazu mit einem Manne, der sie nicht liebte und ihr gewiß auch keine Liebe vorgeheuchelt hatte! Denn dafür kannte er Alfred genau: weder mit Blicken noch mit Worten konnte er jemand etwas vortäuschen und am wenigsten einem Weibe Liebe.

Aber es war doch sehr leicht denkbar, daß sie ihn liebte – galt er doch als der „Unwiderstehliche“, und hatte Marbod es doch unzähligemal angesehen, wie oft, und wie oft unerwünscht und ungesucht, sein Freund Erfolge hatte. Vielleicht liebte sie Alfred und hoffte, seine Liebe zu erringen.

Oder aber, sie befand sich in hilflosester Lebenslage und wollte nur versorgt sein.

In jedem Falle: welch’ ein seltsamer erschreckender Ehebund!

Marbod fühlte, daß seine Beklemmung sich allmählich in tiefste Traurigkeit umwandelte. Er begriff, daß er durch diese Heirath den Freund ganz verlieren könnte, und der Gedanke an diesen Verlust war ihm so schmerzlich, als sollte ihm mit einem Federstrich die Erinnerung an viele sonnenhelle Jugendjahre ausgelöscht werden.

Die Gründe zu diesem Verlust konnten doppelte sein: er sah der Frau mit dem stärksten und durch die Umstände, unter denen sie Alfreds Gattin wurde, wohl gerechtfertigten Vorurtheil entgegen, und es konnte sein, daß dieses Vorurtheil sich bestätigte und seine Ehrlichkeit ihm dann verbot, weiter mit Alfred zu verkehren. Oder aber, die junge Frau konnte, eben in der Nothwendigkeit, sich Alfreds Liebe erst erobern zu müssen, eifersüchtig auf alle und alles sein, was den Gatten an frühere Zeiten gemahnte, und dahin streben, ihn – Marbod – von dem Freunde zu trennen.

Es bedurfte einer gewissen Willensanstrengung, daß er sich allen Grübeleien entriß, die er selbst als nutzlos erkannte. Die Thatsachen, mit denen es zu rechnen galt, konnten ganz andere sein, als er sie sich vorstellte.

Er beschloß, an diesem Abend nicht zu arbeiten, sondern im Café Kaiserhof Bekannte aufzusuchen. Zu seinem Mißgeschick war der runde Tisch in der Tiefe des nach dem Ziethenplatze zu belegenen Saales noch ganz leer, obgleich es bald zehn Uhr abends war und gerade sein Kreis sich hier schon früher zusammenfand.

Er fragte den Kellner und erhielt die Antwort, es sei eine Premiere im Schauspielhaus.

Marbod vertiefte sich in die Lektüre von gleichgültigen Zeitungen. Rings um ihn schwirrte das gedämpfte Geräusch des Kaffehauslebens. Dominosteine klapperten, Sprechen und Lachen, das Räderrollen und die dumpfen Tritte der Pferdehufe auf dem glatten Makadam draußen, das Aneinanderprallen von Billardkugeln, das vom andern Ende des Cafés manchmal hertönte, das Rücken von Stühlen und Knistern von Zeitungen – das alles gab zusammen ein endloses anheimelndes Geräusch. Der Raum war von bläulichem Cigarrenrauch leicht durchwölkt und die elektrischen Lämpchen hingen gleich Tropfen in dem Qualm. Die hohen Fenster waren dick beschlagen, und im Gegensatz zur Herbstkühle der Nacht war es hier sehr warm. Die Gemüthlichkeit des Kaffeehauses war behaglich ausgebreitet; Marbod, der sie zuweilen im Gegensatz zu seiner Junggeselleneinsamkeit sehr angenehm empfand, hatte heute keinen Sinn dafür.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_391.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)