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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Am andern Morgen stand Sif mit einer kleinen Handtasche und einem Kistchen, das sie in der Gepäckexpedition wägen ließ, auf der nächsten Station der Gebirgsbahn. Sie war sehr schön in ihrem blauen Kleide, über das die langen Zöpfe schwer herabfielen, mit den dänischen Handschuhen und dem grauen Schleier, den sie um das rosig angehauchte Gesicht gesteckt hatte.

Schon setzte sie einen Fuß in das Damencoupé, sah nur noch einmal nach dem Gepäckwagen zurück, auf welchem ihr weißes Kistchen schwankte. Da schien es ihr, als sei etwas an dem Deckel zerbrochen, und bedachtsam, wie sie war, trat sie wieder auf den Perron, um ihr Gepäckstück in Augenschein zu nehmen.

Richtig! Der Deckel war eingeknickt, und der kleine Götze schaute mit seinem runzeligen Gesicht heraus.

So durfte sie ihn nicht fahren lassen; wie leicht konnte der Kopf abgestoßen werden! Zum Ausbessern der Kiste war keine Zeit. Es blieb nichts anderes übrig: Sif mußte den Purzelmann aus dem Kistchen heben und mit in das Coupé nehmen wie die arme Prinzessin den verwunschenen Froschprinzen in ihre Kemenate.

Das Nächste war, daß die das Damencoupé mitbewohnenden Kinder ein Zetergeschrei erhoben und die Mütter sich darüber empörten. Sif setzte ihren Schutzbefohlenen in die Fensterecke neben sich. Dann stellte die Milchflasche die Ruhe wieder her.

Andere Heimsuchungen traten an sie heran. Die Passagiere, die auf den Stationen am Waggon vorüber gingen, blieben stehen und lachten. An jeder Haltestelle bildete sich ein Auflauf vor dem Coupé. Man schaute nach dem lächerlichen Fratzenbild und dem schönen jungen Mädchen mit den langen goldenen Zöpfen.

Daß sie angesehen wurde, daran war sie gewöhnt; sie hätte nicht schön und nicht die Tochter einer Universität sein müssen. Aber heute meinte sie doch, die männliche Jugend treibe es damit zu weit. Sie war froh, als die Lokomotive mit lautem Pfiff in einen langen Tunnel einfuhr, dessen Dunkelheit sie gegen alle neugierigen Blicke schützte.

Da sie wieder heraus kam, schien die Sonne wärmer, hatten die Bergformen ihre Schroffheit verloren und sanken endlich in freundliche Thäler hinein. Ein Marterl stand am Weg. Durch Aehrenfelder zog ein Bittgang, Bauern in kurzen mit großen Metallknöpfen besetzten Tuchjacken, Frauen in unendlich weiten Röcken und Schuhen, welche an die befiederten Füßchen der Latschhühner erinnerten. Und als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo die Wagen gewechselt wurden, da tönte es lockend: „A Bier, a Würstel?“ Die Figuren der Schaffner waren runder, der Dialekt weicher, die Dienstbeflissenheit zutraulicher; der Betrieb ging aus dem beflügelten Tempo in ein behagliches über. Auf a bissel Zeit kam’s halt nit an.

Aber trotz der Gemüthlichkeit nahm Sif mit Herzklopfen den Reisegefährten auf den Arm und stieg aus.

Sie hatte richtig geahnt. Ein Zug lachender Menschen schloß sich ihr an. Kinder liefen nach und schrieen: „Was is’n des für a Fratz, für a sakrament’scher?“

Sie mußte an einer Gruppe junger eleganter Herren vorübergehen. Die ganze Haltung, die mächtigen lang ausgezogenen Schnauzbärte ließen erkennen, daß sie vornehmen Kavallerieregimentern angehörten. Lachend musterten sie den wunderlichen Aufzug.

Als aber ein paar flegelhafte Burschen Sif bedrängten, an den langen Zöpfen zupften, trat der eine Herr dazwischen. Mit einem einzigen Blick wies er die Zudringlichen zurück; ein „Platz da!“ im schneidigen norddeutschen Dialekt gesprochen, und es bildete sich eine Gasse vor ihnen. Noch einmal überflog sein Auge mit zweifelvollem Ausdruck die Gestalt des jungen Mädchens, das, von dunkler Röthe übergossen, vor ihm stand. Aber er mußte ein wohlbewanderter Frauenkenner sein: seine Haltung und Miene kehrten sofort zu harmloser Höflichkeit zurück.

„Darf ich den Vorzug haben, Sie über das Geleise zu geleiten, meine Gnädigste?“ fragte er achtungsvoll grüßend.

Und da sie mit der ihr eigenen anmuthigen Würde dankend das Haupt neigte, fuhr er fort: „Gestatten Sie, daß ich Ihr Handgepäck trage!“

Sie überließ ihm ihre Reisetasche, während sich ihr Arm noch fester um den Purzelmann schloß.

„Gnädiges Fräulein haben sich einen wunderlichen Reisemarschall gewählt,“ sagte er mit herzlichem Lachen, daß seine weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart blitzten, indem er für Sif einen Weg durch das Gedränge bahnte. „Er freilich ist sehr zu beneiden.“

Sie seufzte. „Es ist eine Merkwürdigkeit, die ich auf die Ausstellung bringe.“

„Wo ist eine Ausstellung?“ fragte er.

„Im großen deutschen Museum,“ erwiderte sie. „Mein Vater ist krank, und so muß ich das Götzenbild dahin besorgen.“

„Aha, ein deutscher Gelehrter!“ sagte der junge Herr mit einem Ton, der ausdrückte: Nur ein solcher ist imstande, eine derartige Dummheit zu begehen. „Also eine Ausstellung ist dort? Nun, von unserem Bad aus kann man diese besuchen. Ich werde mich freuen, den kleinen alten Herrn wiederzusehen. Werden auch Sie sich längere Zeit dort aufhalten?“

„Bis ich den Purzelmann auf einem guten Platz untergebracht habe.“

Die blauen Augen des Offiziers blitzten vor Uebermuth auf bei dem Namen. „Einen so guten Platz, wie er jetzt hat, bekommt er nicht wieder,“ sagte er mit chevaleresker Verbeugung.

Sif stieg ein. Der Herr reichte ihr die Reisetasche nach. Sie dankte aufrichtig. Dann trat er grüßend unter seine Gefährten zurück.

„Ist es eine Walküre, die nach Baireuth fährt?“ fragte der eine lachend.

„Famose Zöpfe! Schönes Weib oder Mädchen!“ rief der andere. „Aber gar nicht chic.“

Der Offizier mit dem blonden Schnurrbart warf noch einen Blick hinüber. „Dafür sehr stilvoll,“ sagte er.

Sif hatte sich wie erlöst zurückgelehnt. Es ist gut, dachte sie, daß ich zu einem alten Museumsdirektor reise, wenn er auch etwas griesgrämlich ist.

Nun wollte sie sich’s bequem machen. Sie lehnte sich in die Ecke und schlummerte ein. Da wurde der Name der Stadt, wo die Ausstellung stattfand, laut in ihr Ohr geschrieen. Sie fuhr empor, vermochte aber nicht, sich gleich zu besinnen.

Da war ja ihr erster Traum in Tannenroda wieder. Hohe Thürme ragten in den Himmel, die Abendsonne glitzerte auf ihren Knäufen und Wetterhähnen. Zinnige altersgraue Mauern stiegen empor, von Epheu überwuchert; und darüber lugten spitze Giebel, hohe Schornsteine. Aber sie hatte doch die Augen geöffnet und sah das alles wirklich, und der Schaffner rief jetzt den Namen noch einmal ihr zu und befahl, auszusteigen. Ganz verwirrt nahm sie ihren Purzelmann auf den Arm, Handtasche und Schirm in die andere Hand und ging dem Droschkenplatz zu.

„Das Fräulein fahrt halt doch in das Hotel dem Museum gegenüber,“ sagte mit verständnißvollem Blick auf den Götzen ein Kutscher, der seinen Hut und den Pferdekopf mit Nelken besteckt hatte. Er trug den Purzelmann so vorsichtig, wie sich’s ziemte, in den Wagen, und fort ging’s.

Sif war wie im Traum. Niemand lachte über ihren Begleiter; es wurde ja noch vieles andere wunderliche Gezeug abgeladen. Ein ganzer Haufen Lastträger plagte sich mit einer endlos langen Feldschlange ab, deren Mund Engelsköpfchen zierten, während andere ein kunstvoll geschnitztes Faß fortschroteten, dem ein derber Trinkspruch um das Spundloch gemalt war.

Lange hallte in dem Thorthurm das Rasseln des Wagens, und dann that sich eine Straße auf mit Erkern, Thürmchen und einer gothischen Kirche als Hintergrund. Es war Sif, als komme sie in ihre wahre Heimath. Träume sie denn wirklich nicht? Ach nein; da schritten Damen mit hochgepufften Rückseiten vorüber; aus dem Hotel stürzten befrackte Kellner, um Sif und ihren altdeutschen Liebesgott in Empfang zu nehmen, und es schwirrte um sie von Omelettes aux confitures und Filet de boeuf.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_398.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)