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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Der Vierfingrige.

Eine Erzählung von Eduard Engel.

Jetzt thu mir den Gefallen, kleiner Hans, und sitze mal eine Weile still! Deine nervöse Zappelei ist nicht länger zu ertragen!“ –

Der dies sprach und dabei den also Angeredeten mit einer Art von komischer zärtlicher Wuth in die Sofaecke drückte, war reichlich einen Kopf kleiner als der langaufgeschossene, schmächtige „kleine Hans“, aber um so breiter in den Schultern, höher in der Brust, strammer in Haltung und Bewegung. Unverkennbar war er Militär gewesen; der Ton seiner Stimme klang selbst hier zu Hause, in Gegenwart seiner kleinen zarten Frau, wie gedämpfter Befehl vor der Front. Und der „kleine Hans“ gehorchte, halb erschöpft, halb mit lachender Gegenwehr. Er befand sich offenbar in jenem Zustand zitternder Erregung, die durch ihre Dauer und ihr Uebermaß in Abspannung umzuschlagen droht.

„Gut, Richard, ich halte ganz still, nur möchte ich – – endlich einen vernünftigen Tropfen trinken!“ sagte der „kleine Hans“.

„Daß ich daran nicht gleich gedacht habe!“ rief entschuldigend die Frau Polizeihauptmann, Evchen Farne, und wollte zum Zimmer hinaus.

„Hiergeblieben, Evchen!“ kommandirte der Hauptmann. „Du bist imstande, dem Jungen einen Kaffee zu bringen, und davon kann unter obwaltenden Umständen keine Rede sein.“

„Aber –“

„Kein Aber, Hauptmännin! Im Namen des Gesetzes: Du schickst die Minna sofort hinüber ins Domhotel: der Hauptmann Farne läßt sich empfehlen und bittet um eine Flasche Pommery mitsammt Eiskübel. Hans braucht nach der Geschichte so ein Mittelding zwischen Besänftigendem und Anregendem, und beides steckt in dem Pommery“.

„Um diese frühe Stunde Champagner?“ warf jetzt auch Hans, der jüngere Bruder, ein mit einem Blick auf seine Uhr; „es ist ja erst halb Sieben.“

„Na, ein bißchen später ist es hier in Köln doch schon. Hast wohl noch Pariser Zeit? – Aber das macht keinen Unterschied, es bleibt beim Champagner. Wirst mir’s danken. Uebrigens ist’s für mich schon sehr spät, denn Du hast mich ja um drei aus dem Federnest geweckt, Evchen hat seitdem auch keine drei Augen voll Schlaf mehr gehabt – na und Du?“

Hans wollte famos geschlafen haben im Eisenbahnwagen, aber sein Bruder kannte ihn besser. „Bis der Kübel kommt, kannst Du uns schon ein gut Stück der verrückten Geschichte erzählt haben. Bis heute nachmittag um zwei will der Polizeipräsident meinen Bericht haben – also los!“

Und Hans begann:

„Schon auf dem Wege zum Nordbahnhof in Paris –“

„Halt, Hänschen!“ unterbrach ihn der Bruder, „so wird’s nichts. Dies ist weder Rapportstil, noch Erzählstil. Erst möchte ich wissen, warum Du hierher gekommen bist. Bitte, mich nicht mißzuverstehen. Bist mir natürlich von Herzen willkommen, mir und der kleinen Frau; aber bis zu dieser Stunde habe ich keine Ahnung, was Dich herführt. Oder pfuschst Du mir ins Handwerk und bist etwa dem Millionenhalunken von Paris bis nach Köln nachgefahren?“

Aber da kam lachend Hauptmanns Minna mit dem eisgefüllten Kübel herein, aus dem der weißköpfige Pommery sehr vergnügt hervorguckte. Schnell waren die Gläser gefüllt, geleert, wieder gefüllt, und Hans begann:

„Gestern früh um diese Stunde hatte ich von dem Millionenhalunken und davon, daß ich in vierundzwanzig Stunden bei Euch sein würde, keine Ahnung. Aber so gegen neun Uhr fing der Rummel an. – Doch ich sehe, Du verstehst noch nicht. Schadet auch nichts. Kannst trotzdem zu Deinem Rapport ausholen.“

Der Polizeihauptmann zog sein Taschenbuch, spitzte den Bleistift und lauschte. Evchens neugierige, schon gar nicht mehr verschlafene Augen hingen an des Schwagers Lippen.

„Also da ist nun erstlich mal der Krach im Comptoir d’Escompte. Von dem habt Ihr wohl auch gehört, Kinder?“ fragte Hans.

„Selbstverständlich,“ erwiderte Richard; „habe auch gleich an Dich gedacht; aber Du schriebst ja noch vor acht Tagen, Deiner Stellung könne der Krach nichts anhaben.“

„Ja, das schrieb ich damals; aber die Todten reiten schnell. Seitdem hat es munter weiter gekracht, und aus den fünfzehntausend Franken, die ich mir in den sechs Jahren als deutscher und englischer Korrespondent im Kabinet des Direktors erspart hatte, sind heute rund tausend Franken geworden, und allenfalls langt es noch zu einer zweiten Flasche Pommery. Hier siehst Du meine ganze Habe“, – dabei holte er aus einem Visitenkartentäschchen eine einzige zusammengefaltete Tausendfranknote. „Das wundert Dich? Wenn man heutzutage Kupferaktien versilbern muß, kommt nicht mehr heraus. ‚Alles ist weg, weg, weg!‘ ganz wie mir heute nacht die Eisenbahnräder in die Ohren höhnten. Was ist heute für ein Tag?“

„Sonnabend – heiliger Eberhard,“ sagte Richard geschäftsmäßig.

„Und gestern Freitag, natürlich ein Freitag! Und da sage noch einer, man solle nicht abergläubisch sein. Komme ich da gestern morgen wie gewöhnlich gegen halb zehn Uhr vors Comptoir d’Escompte in der Rue Bergère. Am Abend zuvor war ich mit dem Subdirektor und dem ersten Kassirer im Theater der Porte St. Martin gewesen, hatte spät Abendbrot gegessen, war mit den Herren bei schönem Frühlingswetter noch einmal die Boulevards auf- und niederspaziert und dann erst gegen ein Uhr zu Bett gegangen. Ich hatte dann unruhig geschlafen – der Kurssturz der Kupferaktien hatte mich doch schmählich geärgert – und so war ich verdrossen und verschlafen, wie ich die Treppe zum ersten Stock des Bankgebäudes hinaufstieg. Erst auf der obersten Treppenstufe sah ich einen höheren Polizeibeamten stehen, so eine Art Pariser Kollegen von Dir, und rechts und links je zwei Sergents de ville, die mir den Weg versperrten: ‚Niemand passirt hier, mein Herr!‘

‚Aber ich bin der Sekretär der Direktion! Was ist denn geschehen?‘

‚Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, mein Herr. Jedenfalls kommen Sie hier nicht hinein!‘

‚Wollen Sie wenigstens die Freundlichkeit haben, dem Herrn Direktor meine Karte zu übermitteln?‘

Einer der Schutzleute verschwand mit meiner Karte im Arbeitszimmer des Direktors, kam bald zurück, flüsterte seinem Vorgesetzten ein paar Worte zu, der dann höflich zu mir sagte: ‚Treten Sie ein, mein Herr! Aber der Herr Direktor ist im Nebenzimmer.‘

Auf meinem Schreibtisch in dem leeren Kabinet lag ein großer Brief, an mich adressirt, versiegelt. Mir ahnte nichts Gutes. Hastig riß ich den Brief auf: meine Entlassung! Hier hast Du den Wisch. Natürlich: lebhaftes Bedauern – treue Dienste – peinliche Geschäftslage – fernerhin verzichten – mit ausgezeichneter Hochachtung u. s. w.

In dem Augenblick trat der Direktor ein, zusammen mit dem Polizeihauptmann – verstört, fahrig. Ich wollte auf ihn zugehen und mich verabschieden; persönlich waren wir stets vortrefflich miteinander ausgekommen. Aber er ließ mich gar nicht erst anfangen. ‚Ach, mein lieber Herr Jean, welch entsetzliches Unglück! Dieser Diebstahl! Das hat uns gerade noch gefehlt! Millionen sind weg! Gestohlen! Mehr als vier Millionen!‘

Ich begriff kein Wort.

‚Sie wissen noch nichts?! Eingebrochen ist man bei uns, die Thür zum Tresorgewölbe aufgesprengt, in die Luft gesprengt, das ganze Schloß, die drei Schlösser wie Blech zerfetzt – die Polizei meint, mit Melinit oder sonst einem Teufelszeug – die Thür zum Geldschrank, dem breiten Hauptschrank, aus den Angeln gesprengt, gesägt, was weiß ich? – und alles oder fast alles geraubt, was an Barem darin lag. Dies ist beinah noch ärger als das große Unglück, dem auch Sie, mein lieber Jean, zum Opfer fallen.‘

‚Aber wie war das möglich, Herr Direktor?‘ fragte ich, um doch irgend etwas zu sagen. Ich kam mir noch überflüssiger vor, als da ich die Kündigung gelesen hatte.

‚Was weiß ich, wie es möglich war? Beide Schlüsselgarnituren, die zur Nischenthür und die zum Schrank, sind unversehrt hier in meiner Hand. Herr Souchon, der erste Kassirer, hat sie nach vorgenommener Zählung des Barbestandes, nach Prüfung der Siegel an den Fondspacketen mir gestern abend in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_458.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)