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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


„Nun, das will ich meinen,“ lachte Aninia, „wenn es auch nicht so verliebt ist wie die Euren sammt und sonders.“

„Gefällt Dir denn keiner von den Burschen?“

„Sie gefallen mir alle, aber keiner besser als der andere; ich mag keinen von ihnen nur halb so gern, als früher einen armen Buben, der mein Spielkamerad war. Gott weiß, wo er hingekommen ist; wäre der hier geblieben, so könnte wohl sein –“ sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann im alten lustigen Ton fort: „Ach was – das ist alles dummes Zeug. Soll mir heute einer gefallen, so muß es auf den ersten Blick geschehen, und geschieht’s – dann, Staschia, darfst Du Dich darauf verlassen, daß ich den Burschen – mag er sein, wer er will – zum Manne nehme. – Und nun laß uns das Tanzlied anstimmen, damit die faulen Burschen ihre Weinkrüge im Stiche lassen und wir endlich tanzen können, Du mit dem Clo, ich mit dem Pariser!“

Damit sprang sie fröhlich, das wohlbekannte Tanzliedchen singend, zu den Freundinnen zurück, die sofort einen Reigen bildeten, der durch das rasche Hinzutreten der Burschen immer größer und lustiger wurde und zugleich immer kühnere und drolligere Schwenkungen und Verschlingungen ausführte.

Eine volle halbe Stunde ohne Aufhören mochte dies lustige Tanzen und Singen gedauert haben, wenn auch manchem Paare dabei vor Lachen und Anstrengung zeitweilig der Athem ausgehen wollte. Der Franzosen-Peider hatte in der That sich sofort an die Seite der Gold-Aninia gedrängt, war auch von derselben recht freundlich als Tänzer angenommen worden, und der lange Clo fand sich – er wußte wahrhaftig nicht, wie es geschehen! – an der Seite der gleichgroßen Staschia Cadruvi. Beide bildeten ein sehr stattliches Paar, das fast um Kopfeslänge den größten Theil der übrigen Tänzer und Tänzerinnen überragte. Der äußerst gewandte und lustige Franzosen-Peider hatte es so einzurichten gewußt, daß die lange Schlangenlinie der Tanzenden sich mehr und mehr den Arven des Crestaltahügels näherte.

Dort, ziemlich hoch am Hügel droben, zwischen den dichten Stämmen des dunklen Nadelholzes, von Büschen knospender Alpenrosen verdeckt, kauerte schon seit geraumer Zeit eine seltsame Gestalt. Den Oberkörper hüllte eine Art ärmelloser Jacke von zottigem Bärenfell ein, und unter dem dichten schwarzen Haar, das in krausem Gelock den Kopf umgab, leuchtete ein Paar dunkelglühender Augen hervor, die nur auf einen einzigen Gegenstand gerichtet schienen. Der Mann hatte sich einen Lagerplatz ausgewählt, von dem aus er zwischen den Baumstämmen durch auf die nahe Wiese hinabschauen konnte, die nun zum Tanzplatz geworden war, und von hier aus starrte er unverwandt auf Aninia und ihren feurigen Tänzer.

Beppo, der Bergamasker, wie ihn die wenigen Leute nannten, mit denen er verkehrte, war übrigens ein noch junger, sogar in seiner Art schöner Bursche, nur etwas verwildert sah er aus. Er stammte aus dem jenseit des Valtellino gelegenen Alpenlande der Bergamasker. Dort stand er in Diensten des in jenem armen Berglande begüterten Grafen Branzi, dessen Schafheerden mit beginnendem Frühling auf die Alpenmatten des Engadins zur Sommerweide getrieben wurden. Als Knabe war er mit seinem Vater und den hochbeinigen Schafen des Grafen auf die Triften Surleys gezogen, dann verschwanden beide und ein anderer bergamasker Schäfer trat an ihre Stelle. Erst im vorigen Jahre war Beppo wieder als Führer der Heerde erschienen, doch hielt er sich scheu von allen Menschen fern und nur wenige Leute waren mit ihm in Berührung gekommen. Auch jetzt war er über den Berninapaß gezogen, um mit dem Cavig von Surley an Ort und Stelle, wie es Brauch und Herkommen wollte, den Weidevertrag für seine Schafe zu bereden, und war nun auf dem Wege nach Surley. Von dem Fest auf der Wiese überrascht, rastete er zwischen den Arven des Hügels.

Der Reigentanz war mit seinem eigentlichen Führer, dem Franzosen-Peider, am Rande des Hügels angelangt; er mußte mit der letzten Kraft der Tanzenden zu Ende gehen. Schon löste sich hier und da die lange, verschlungene Kette, und Paar um Paar flog einzeln, wirbelnd davon, bestrebt, sich auf den Füßen zu erhalten, aber die Mehrzahl kollerte unter Schreien und Gelächter auf den Rasen hin. Da dies der Hauptspaß vom Tanze war, fand niemand etwas Auffallendes dabei, die Mädchen standen schnell wieder auf den Füßen oder neckten ihre Tänzer, wenn es ihnen gelungen war, sich aufrecht zu erhalten. Im allgemeinen Getümmel aber riß der Franzosen-Peider seine Tänzerin weit von den andern fort, nach den Arven hin, indem er sie unausgesetzt so im Wirbel drehte, daß Aninia völlig athemlos plötzlich die Besinnung schwinden fühlte und taumelnd in einer Art von Ohnmacht unter den Bäumen auf den Rasen glitt.

Auf der Tanzwiese begann das fröhliche Lärmen von neuem. Diejenigen Burschen und Mädchen, welche sich aufrecht erhalten hatten, lachten die Gefallenen, Uebereinandergekollerten aus, und diese suchten sich wieder zu erheben, was nicht ohne neues Lachen und Jubeln abging. Plötzlich ertönte unter den Bäumen hervor das schrille, angstvolle Aufkreischen einer wohlbekannten Mädchenstimme, dem sofort ein gräulicher französischer Fluch folgte, den nur der Peider ausgestoßen haben konnte, begleitet von gellenden, weithintönenden und fremdartig klingenden Drohworten einer zweiten Männerstimme. Die Fröhlichen auf der Wiese hatten überrascht, erschrocken kaum die Blicke nach den nahen Bäumen des Crestaltahügels gewendet, da flog der Peider mit zerrissenem, weithinflatterndem Habit, wie von einer Riesenfaust in weitem Bogen aus dem Walde geschleudert, auf die Wiese, wo er keuchend vor Aufregung und Schmerz zusammenbrach. Doch alsbald trat auch ein Mann in zottigem Bärenfell, die scheinbar leblose Gold-Aninia auf den Armen tragend, heraus auf den Tanzplatz.

Was da Schlimmes geschehen, war das Werk weniger Augenblicke gewesen. Der im Grunde nicht bösartige, aber bis zur Gewissenlosigkeit leichtfertige Franzosen-Peider, der den Wein schon bedeutend spürte, war von der Ueberanstrengung und dem verführerischen Anblick des schönen Geschöpfes, das sich für ein paar Minuten in seiner Gewalt befand, bis zum Wahnsinn erregt und verwirrt. Nur dem Trieb des Augenblicks folgend, stürzte er auf das fast besinnungslose Mädchen zu und bedeckte das bleiche, doch so schöne Gesichtchen mit verzehrend glühenden Küssen.

Da wachte Gold-Aninia jäh aus ihrer Betäubung auf, stieß einen schrillen Angstschrei aus, um dann einer wirklichen und tiefen Ohnmacht zu verfallen. Doch zugleich packten den unseligen Menschen zwei nervige Fäuste, hoben ihn mit schier übermenschlicher Kraft vom Boden empor, um ihn dann wie einen leichten Ball in weitem Schwunge auf die Wiese hinaus zu werfen. Der dies gethan, war der Bergamasker, welcher auf seinem Lauerposten die Frechheit des Burschen mitangesehen hatte, aber auch im selben Augenblick den Berg hinab gerannt und mit Blitzesschnelle über ihn hergefallen war. Dann nahm er die ohnmächtige Aninia auf seinen Arm und trug sie unter den Bäumen heraus und zu den übrigen Mädchen zurück.

Kaum vermochte er, sie sanft auf den Rasen niederzulegen, denn im gleichen Augenblicke rückte man von allen Seiten gegen ihn an. „Der Beppo, der Bergamasker,“ schrieen entrüstet die Burschen, jedermann glaubte, in ihm den frechen Störenfried zu sehen, und ein drohendes Ungewitter zog sich über seinem Haupte zusammen, wenn es sich auch vorerst nur durch heftige Scheltworte und Flüche ankündigte. Die Freunde des Franzosen-Peiders, besonders die von Sils-Baseglia, die mit ihm gezecht hatten, stellten sich auf Seite des Mißhandelten, den man vorläufig für ungerecht angegriffen hielt. Nur Clo blieb, wenn auch noch halb zögernd, bei dem Bergamasker stehen, weil ihn ein inneres Gefühl zu dessen Gunsten anwandelte: hatte er doch dem verhaßten Franzosen-Peider ein Tüchtiges ausgewischt!

Dieser aber hatte sich wieder aufgerafft und, jetzt erst recht sinnlos vor Wuth und Scham, seinen Degen gezogen. Unter gellenden Wuthschreien und Flüchen drangen er und seine Freunde auf den Bergamasker ein, der den Nahenden die geballten Fäuste entgegenstreckte. Er war rasch mehrere Schritte von dem noch immer ohnmächtigen Mädchen weggesprungen, um dessen Wiedererwachen sich die Freundinnen bis jetzt vergebens bemühten, und nun entwickelte sich ein Handgemenge, das sich bald zu einem dichten Menschenknäuel gestaltete. Wuchtig fuhren die Fäuste des Bergamaskers auf seine Angreifer nieder und Clo half bei solchem Zuschlagen redlich und sehr wirksam mit. Doch der ungleiche Kampf dauerte nur wenige Augenblicke, da stieß der Beppo plötzlich einen Wehschrei aus, die Hände fuhren nach der Brust, und während die Burschen erschrocken rasch nach allen Seiten auswichen, taumelte der arme Bergamasker einige Male hin und her und sank dann wie leblos zu Boden. Auf der Seite drang ihm ein heller Blutstrom, der den Rasen blutroth färbte.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_507.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)