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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

allgemein gehaßten und gefürchteten Giuseppe Russo einen ganz anderen Eindruck, und während die Bettlerschar auf der einen Seite des Platzes den Wohlthaten des neugebackenen Marchese zujubelte, brachten auf der andern Seite die Männer und Frauen von Taormina dem alten, zwischen Rührung und Entrüstung, zwischen thränendem Dankesstottern und unbeschreiblichen Wuthausbrüchen sich theilenden Edelmann ihre ebenso lauten und nicht minder leidenschaftlichen Huldigungen dar.

Bei allem, was ihm heilig war, bei seinen urältesten Ahnen, bei den in Palermo begrabenen Normannenkönigen, und dann im selben Athemzuge bei den Rechten des Volkes, bei der Freiheit und bei den Manen Procidas und aller Tyrannenbändiger schwur Don Filippo, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis er wieder in seine Rechte eingesetzt und bis aus jenem Aftermarchese wieder ein richtiger Winkeljurist geworden wäre. Seine und seiner Freunde Bemühungen brachten es auch soweit, daß der Prozeß gegen Giuseppe Russo wieder aufgenommen und in neuer Instanz in Palermo berathen wurde. In Erwartung dieses entscheidenden Richterspruches lebte Signore Filippo wie ein Löwe in seiner Höhle in seinem alten Kastelle in Taormina weiter; seine von urkräftigen Verwünschungen gewürzten Zornausbrüche gegen den „Schuft“, den „Schurken“, den „Baronenschwindler“ ertönten von morgens bis tief in die Nacht hinein in der weiten verwahrlosten Halle der Normannenburg; sie vermischten sich mit den Befehlen, die der Hausherr über die verfallene Steintreppe hinunter und unter den spinnwebenumhangenen Gewölben hin seinen in Lumpen umherlungernden Dienern zuwetterte; sie flochten sich als ein eigenartiges Gewinde durch die Gespräche, die er abends vor dem Thore seines Palazzos mit den Freunden und Nachbarn zu halten pflegte, und flogen von da aus dick und körnig mit den Rauchwolken, die er aus seiner kurzen Thonpfeife herauspustete, zu den Fenstern des „Marchesestalles“, wie er das Haus gegenüber zu benennen beliebte.

Konnte Romeo nun von diesem so schwer gekränkten und in der Ehre seiner Väter angegriffenen Manne eine ruhige und vorurtheilsfreie Beantwortung seiner Frage erwarten? Mußte er nicht im Gegentheile befürchten, daß der Marchese seinem Freunde Salvatore Recht geben und daß ihm jedwede Waffe genehm sein würde, wenn es nur zu einem lustigen Dreinschießen käme und die Neapolitaner mit ihrer ganzen Sippe von Söldnern und Rechtspraktikanten wie ein Rudel Wildschweine aus Sicilien hinausgejagt würden?

Der Abend war vollends hereingebrochen, und schon fing es an zu dunkeln, als Romeo in den Thorweg des alten Sarazenenstädtchens einbog.

Am anderen Ende der Straße erhob sich ein plötzliches Schreien; – es fiel ein Schuß – dann wurde es wieder still. Romeo blickte auf. Rasche Schritte näherten sich. Um die Ecke bog ein junger Mann. In der linken Hand trug er eine Flinte. Wie er näher kam, erkannte Romeo den Sohn seines Freundes Merlo.

„Antonino?“ sagte er leise, und fragend hob er die zusammengepreßten Finger der rechten Hand in die Höhe.

Der andere stutzte, dann, einen raschen Blick um sich werfend, legte er den Finger auf den Mund und in ebenso leisem Tone wie Romeo raunte er diesem im Vorbeigehen zu:

„Einer ist todt! Ich flüchte in die Berge; – sage aber, Du hättest mich drunten am Meere getroffen, ich hätte mich heute morgen nach Reggio eingeschifft!“

Sprach’s und schritt weiter.

Romeo verzog keine Miene. Niemand hätte ahnen können, daß die beiden sich kannten, oder gar, daß sie miteinander gesprochen hatten. Ein Nebengäßchen öffnete sich einige Schritte weiter. Langsam, als wäre es sein Weg, lenkte Romeo seinen Esel dort hinein.

„Ist einer todt, so denke an den Lebenden!“ sagt ein sicilianisches Sprichwort.

Durch lange, krumme Gäßchen, den Berg hinan und dann wieder hinunter, einen weiten Bogen um die Gegend beschreibend, in welcher der Schuß gefallen war, kam Romeo endlich auf einen kleinen Platz.

Ein massiver viereckiger Bau von Quadersteinen erhob sich auf der einen Seite. Vor dem Hause, dem Gäßchen, aus welchem Romeo herausritt, den Rücken kehrend, stand mit ausgespreizten Beinen ein hochgewachsener, breitschulteriger Mann; ein Schlapphut bedeckte den von langen weißen Haaren umwallten Kopf; die Kleider hingen nachlässig um die stramme Gestalt; in kurzen Pausen pustete die Stummelpfeife, die er fest zwischen den Zähnen hielt, dichte Rauchwolken in die Luft. Er schien aufmerksam an dem gegenüberliegenden Hause ein hell erleuchtetes Fenster zu beobachten.

„Guten Abend, Marchese!“ rief Romeo, von seinem Esel springend und dem Freund auf die Schulter klopfend.

Der andere drehte sich um. Das kupferbraune, scharfgezeichnete Gesicht schien noch brauner und düsterer gefärbt aus dem hellen Rahmen des schneeweißen Vollbartes; die weißen Wimpern und Brauen verliehen dem blauen Auge einen seltsamen Ausdruck

„Eh, Romeo!“ rief er, „was führt Dich hierher?“

„Immer dasselbe,“ erwiderte Romeo mit verständnißvollem Augenzwinkern. „Kann ich eine Nacht bei Dir zubringen? Morgen reise ich nach Milazzo.“

Ein wieherndes Lachen des Marchese unterbrach ihn.

„Haha!“ rief der Alte über den Platz hinüber, „hast Du mich endlich entdeckt, Marchesendieb? Und huschest vom Fenster zurück – weil Du Dich vor meinem Blicke fürchtest! – Gauner! Schurke! – Er ist seit gestern wieder hier,“ fügte er gegen Romeo hinzu; „kam, um seine Einkünfte einzukassiren – und seine Verwalter zu kontrolliren! – Haha! Giuseppe Russo, Du weißt ja, daß den Verwaltern nicht über den Weg zu trauen ist! Wer einen andern bestahl, ist gewitzigt! – Komm doch mal hervor, – daß man sehe, wie ein Dieb unter einer Marchesenkrone aussieht!“

Ein paar Männer bogen raschen Schrittes um die Ecke herum.

„Marchese!“ sagte der erste, indem er dicht zu dem Alten hintrat, „auf der Straße dort liegt der Verwalter des …“ mit umgedrehtem Daumen wies er auf das Haus; – „er ist todt.“

Der Alte stieß langsam den Rauch aus seiner Pfeife.

„Wundert mich nicht, Raffaelo! Hat ihm die Galle eine Ader gesprengt?“

„Mit nichten! todtgeschossen! … in die Stirn getroffen!“

„Sonderbar! Hörte ich doch keinen Schuß fallen! … ’s ist seine Schuld und die Schuld seines Herrn. Warum ziehen sie den armen Leuten das Fell über die Ohren! Könnte wohl einem andern was Aehnliches passiren!“ –

Im Hause drüben wurde es plötzlich lebendig. Ein Geräusch von Stimmen kam die Treppe herunter. Ein greller Lichtschein brach durch das geöffnete Thor und flammte über den Platz, die unbewegliche Gruppe, die dort stand, in ein plötzliches rothes Flackern einhüllend. Zwei Diener mit Windlichtern traten heraus; ihnen folgte auf dem Fuß ein kleines, spindeldürres Männchen, das mit den Armen lebhaft in der Luft herumfuchtelte und mit heiserer Fistelstimme unzusammenhängende Worte vor sich hin kreischte. Der Marchese stemmte sich fester auf seine breiten Beine; man hörte, wie er die Hacken in die Erde einwühlte. Hinter dem Männchen kamen ein paar Gendarmen zum Vorschein, hochgewachsene, nachlässig in ihrer Uniform sich bewegende Gesellen. Wie der Kleine der vom Wiederscheine der Fackeln hell beleuchteten Männer ansichtig wurde, drehte er sich zu diesen zurück.

„Dort steht er!“ schrie er; „nur von Filippo Ruggiero kann der Mörder gedungen sein! Haltet ihn fest!“

Der Marchese rührte sich nicht vom Flecke. Er biß die Zähne in den Schaft seiner Pfeife. Ein eigenthümlicher Ton wie das dumpfe Murren eines zum Sprunge ansetzenden Löwen entrang sich seiner Brust; dann rief er hinüber:

„Du lügst und weißt, daß Du lügst, Peppo Russo! Du weißt ja so gut als ich, daß ich seit einer Stunde nicht von dieser Stelle gewichen bin, und bevor Du die Gendarmen bei Dir hattest, wagtest Du Dich nicht einmal ans Fenster, – Galgenkandidat!“

Die Gendarmen machten keine Miene, dem Befehl des Kleinen Folge zu leisten. Der Brigadiere näherte sich ihm, und laut genug, daß die andern drüben es hören konnten, sagte er:

„Antonino Merlo hat geschossen. Heute noch wird er festgenommen.“

Romeo trat einen Schritt vor.

„Antonino Merlo?“ sagte er, „wie wäre dies möglich? Vor zwei Stunden traf ich ihn unten am Meere; er hat Geschäfte in Reggio und schiffte sich ein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_614.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)