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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

es gesagt: hier kann ich nicht länger bleiben. Schon bricht die Nacht herein. Um Deiner, um Deiner Ehre willen muß ich morgen schwören können, daß ich die Nacht nicht hier zubrachte.“

„Wo willst Du hin, Eckart? wo hinaus? Dort draußen ist der Tod, das sichere Verderben!“

„Dort, in der Gasse sah ich altes Gemäuer, gewölbte Räume.“

„Und dort wolltest Du …?“

„Sage selbst, Felicita, soll ich in diesem Hause …?“

„Nein! nein!“ rief sie, und wieder hing sie schluchzend an seinem Halse, „nein, bleibe! – nein, fliehe! – gehe! – ich weiß nicht, was ich sage, – ich weiß nicht, was ich denke!“

Ihm schwindelte. Sie hatte beide Arme um seinen Nacken geschlungen. Er fühlte das warme Pochen ihres Herzens an seiner Brust. Eine wilde Gluth durchströmte seine Adern. Ihren Kopf mit kräftiger Hand bis zu seinem Gesichte emporhebend, drückte er seine Lippen auf die ihren, Liebesworte stammelnd und ihr tief in die Augen schauend.

Ein leiser Schrei entrang sich ihren Lippen – aber schon hatte Eckart sich gefaßt. Gewaltsam riß er sich los und in einem Sprunge stand er unter der geöffneten Thür. Ein Wildbach rauschte über die Terrasse.

„Lebe wohl, Felicita! Morgen kehre ich wieder!“ – und mit wilder Gewalt flog die Thür hinter dem Fliehenden ins Schloß.

Der Morgen graute, als Eckart aus dem Gewölbe, wo er Schutz gefunden hatte, ins Freie trat. Der Orkan hatte ausgetobt. Blau wölbte sich der Himmel über den im Morgenglanze strahlenden Bergen. Im Thale rauschte nur noch ein kleiner, bescheidener Bach. Eckart schaute zu Felicitas Fenstern hinauf. Zwischen den Lücken der Läden flimmerte es, als blitzten zwei Augen herunter zu ihm. „Auf Wiedersehen!“ rief er, mit der Hand einen fröhlichen Gruß hinaufwinkend; dann schritt er raschen Fußes die Hohlgasse hinunter.

Welch ein Anblick aber bot sich seinen entsetzten Augen dar, als er, um die Felsenecke biegend, in den Thalkessel der Badiazza trat! Nicht bloß verwüstet lag das Thal vor ihm – verändert war die Gestaltung der Höhen und Tiefen, verändert die Form der Berge, verändert die Umgebung des Klosters – und die Kirche selbst, in welch ein gräßliches Bild des Jammers hatte sie sich über Nacht verwandelt, und wie traurig schauten inmitten der großen Stille der nach dem Orkane schwer schlummernden Natur diese zerrissenen Ruinen ins Thal! Wo sich gestern noch ein von den massiven Klostermauern gekrönter Hügel erhoben hatte, lag jetzt eine weite, flache, von schmalen Berggewässern durchglitzerte Thalsohle; die Stämme der alten Platanen waren von Kies und Schlamm überfluthet; nur die entlaubten Wipfel ragten noch aus dem durchfurchten Gerölle und in phantastisch zerknickter Gestaltung reckten sich die nackten Aeste zum Himmel. Ringsum Steinmassen, verworrenes Bergesgetrümmer! Die Kirche selbst aber – nicht mehr wie ein Ehrfurcht einflößender, allmählich zur Ruine sich umwandelnder Bau stand sie da; eine, eine einzige Nacht hatte die Zerstörung vollbracht! Das Gewölbe war geborsten; im frischen Morgenwinde klirrten die zerbrochenen Fenster; zu der Hauptpforte heraus rieselte ein Bach; das krystallhelle Wasser bahnte sich einen tiefeingeschnittenen Weg zwischen den Sand und Schutt, der die Stufen des Hochaltars bedeckte. Ueber dem Altar, an einem in die leere Luft hinaufragenden Pfeiler, hing noch die ewige Lampe; das kleine Flämmchen flackerte ängstlich; unheimlich knisterte der verkohlende Docht, und es schien dem schaudernden Offizier, als sei dies ersterbende Lämpchen das Sinnbild dieses ersterbenden Heiligthums.

Zögernden Schrittes war Eckart unter die Thür getreten. Lebte noch etwas in diesen Ruinen? Da regte es sich in der finsteren Ecke des Seitenschiffes; ein Wiehern unterbrach die Todtenstille des grausen Ortes.

„Ach! Lebst Du noch, mein treues Roß!“ rief der Hauptmann, indem er das in Angstschweiß gebadete Thier streichelte und die liebkosende Hand über dessen Nüstern gleiten ließ.

„Sieh da! Hauptmann von Hattwyl!“ rief eine Stimme.

Eckart blickte auf.

„Abbate Scaglione! Seid Ihr’s? Wie kommt Ihr hierher?“

Aus der Dämmerung antwortete es mit sonderbarer Betonung:

„Dieselbe Frage, Herr Hauptmann, könnte ich an Euch richten! Auf Befehl des Erzbischofs habe ich diese Nacht hier verbracht – wo zum Teufel verbrachtet aber Ihr dieselbe? Einem liebestrunkenen Ritter, wo eröffnete sich ihm wohl in dieser Einöde eine Stelle zum lauschigen Liebesschwärmen?“

Eckart stutzte. Was wollte jener mit seinen Worten? Es flog wie eine Ahnung durch Eckarts Sinn: was mochte wohl den Begleiter der Gräfin zu dieser Stelle geführt haben?

Rasch schwang er sich in den Sattel.

„Zum Plaudern habe ich keine Zeit, Abbate! Mein Roß und mich muß ich wieder warm reiten! Lebt wohl!“

„Schade! schade!“ höhnte es zurück; „Ihr hättet wohl wunderhübsche Sächelchen zu erzählen gehabt!“

Eckart hielt sein Roß zurück. Zornesröthe bedeckte sein Antlitz.

„Abbate!“ rief er in die Kirche hinein, „ich rathe Euch, Eure Zunge im Zaume zu halten! Wohl verstehe ich, worauf Ihr zielt. Aber ich sage Euch: Ihr seid im Irrthum – und ein ehrbar Mädchen ist die, die ich vom Tode errettete.“

Und dem Roß die Sporen in die Weichen drückend, flog er von dannen. –

Ein Thränenstrom ergoß sich aus des armen Fra Serafinos Augen, als der gute Bruder in seine verwüstete Kirche herunter trat.

„Heilige Madonna!“ seufzte er, „es mußte ja so kommen! Dein wunderthätig Bild haben sie weggeschleppt, und nun hat sich Deine Hand von dieser Stätte gewendet!“

Und die armen, schlottrigen Kniee beugend, ließ sich Fra Serafino in den Schlamm vor dem Hochaltar nieder und die zitternden Hände faltend, betete er sein Ave Maria zu der Erzürnten.

Durch die zerborstenen Fenster fiel der erste Strahl der über die Berge Kalabriens heraufschwebenden Morgensonne; auf den Normannenkreuzen der moosigen Kapitäle, auf dem verfallenen Gemäuer, in den leeren Nischen erglänzte plötzlich ein Funkeln, wie von Perlen und Edelsteinen; und erstaunt ob dieser flimmernden Pracht erhob das betende Mönchlein den Kopf, als suche es in der öden Kirche, ob die heilige Mutter Gottes sein Flehen erhört habe und auf silbernen Wolken, getragen und umgeben von den himmlischen Heerscharen, herniederschwebe in ihr verwüstetes Heiligthum.


11.

Langsam, die Hände tief in den langen Rocktaschen und sich mit vogelähnlichen Halsbewegungen nach rechts und nach links umschauend, schlenderte der Bankier Lerche durch die Straße Ferdinanda. Aus allen Gassen und Gäßchen strömten die Geschäftsleute, große und kleine, Reeder und Krämer, Millionäre und Winkelagenten, zu ihren gewöhnlichen Morgenbesprechungen vor der Börse und dem Rathhause zusammen. Der Orkan war glücklich überstanden; die Sonne lachte wieder aus blauem Himmel; ein jeder hatte den andern von den Schrecken der vergangenen Nacht zu erzählen. Sieh! dort bog auch der Abbate Scaglione um eine Ecke.

„Schon so früh zu Eurer schönen Gräfin, Abbate?“ rief ihm Lerche freundlich grinsend zu.

Sie blieben eine kurze Weile im Gespräch. Was Scaglione erzählte, mußte wohl von gar erstaunlicher Wichtigkeit sein, denn leiser und leiser sprachen sie zusammen, und mit bedenklichem Kopfschütteln begleitete Lerche das kurze Lebewohl, das ihm der Abbate nachrief.

„Mag schön werden!“ sagte er halblaut vor sich hin. „In diesen Schweizer ist die Gräfin ja bis zur Raserei verliebt! – Letzte Liebe, schlimmste Liebe! – und der will nichts von ihr wissen – zieht ihr jüngere Mädchen vor! Was ist dabei? Wir machten’s auch so! – Aber ein gefährliches Spiel! – muß ihm geholfen werden, dem armen, jungen Blut!“

Ein Mann aus dem Volke, mit tief in der Stirn sitzender Kalabresermütze, kam von der entgegengesetzten Seite auf ihn zu. Ein kurzer Wink von weitem, dem ein anderer Wink antwortete, und die beiden hatten sich verstanden.

„Maffia!“ flüsterte Salvatore Merlo, indem er, ohne Lerche anzuschauen, an ihm vorüberging.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_650.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)