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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ich war hinübergeritten nach Wulfshagen. Es war eigentlich gegen meinen Plan, denn ursprünglich hatte ich mit dem Baron zur Stadt fahren sollen. Aber daraus war nichts geworden, weil der Kutscher krank geworden war, und zwar merkwürdigerweise, nachdem er gestern anstatt seines Vaters die Betglocke gezogen hatte auf jenem Kirchhof mit dem verschwiegenen Glockenstuhl.

Beinah wäre uns – Gertrud und mir – diese Abänderung verhängnißvoll geworden. Den Alten kannten wir zwei nach seiner Gewohnheit und kümmerten uns deshalb nicht arg viel um ihn; schlürfend kam er durch das Gitterthor gegangen, sah nicht rechts und nicht links, zog seine zwölf Mal am Glockenseil, ließ es fahren und ging ab, mit klirrendem Wurf das Gitter wieder hinter sich schließend.

Wir hatten uns diesmal ein wenig miteinander verspätet; der Frühlingsabend in seinem Goldlicht war gar zu herrlich und die Nachtigall fing schon an zu schlagen in dem blühenden Fliederbusch über uns, unter dessen Schirm wir auf einem Stein saßen. Gertrud war über die Maßen reizend und berückend und immer wieder hielt ich sie zurück, wie rührend auch ihre Bitte klang: „Laß mich los, Konrad, ich muß ja gehen, oder wir verrathen uns!“ Und doch ließ sie sich so gern halten, und schwach nur war ihr Widerstreben und Erschrecken gewesen, als ich den silbernen Pfeil aus ihrem Haar gezogen hatte und es nun in mächtiger Fülle gleich einem goldenen Schleier an ihr und um sie niederwallte.

Da klirrte die Pforte; wir blickten kaum hin durch die schwache Schutzdecke des Fliederbusches, der uns zur Noth nur verbarg – aber mit leisem, entsetztem Schrei fuhr Gertrud auf und aus meinem Arm und floh mit leichtem eiligen Fuß hinter eine schön gewachsene Balsamtanne. Es war nicht der Alte diesmal – es war sein Sohn, der langsam dahergeschlendert kam und gerade jetzt herüberschaute nach unserem Busch, wie die Nachtigall aufs neue anhub, noch gedämpft und abgebrochen, aber doch mit süßem Ton zu schlagen. Mich entdeckte er nicht, aber Gertruds helles Kleid und ihr goldiges Haar hätten ihm in die Augen fallen müssen. So standen wir da und wagten kaum zu athmen.

Aber unsere Angst wuchs, als er nach vollbrachtem Läuten nicht, während das Erz noch summte und der Glockenstrang noch hin und her pendelte, davonging, sondern, die Hände in den Hosentaschen, behaglich pfeifend, sich offenbar anschickte zu einem Rundgang durch den Kirchhof. Seine Mittel an Zeit erlaubten ihm das. Wir zitterten vor einer Entdeckung. Aber es ging gut. Nachdem er faul hier und da sich einen Leichenstein besehen und ebenso ein schief stehendes Kreuz auf dem verfallenen Grabhügel eines seiner Ahnen gerade gerückt hatte, stieg er zu unserer unendlichen Erleichterung mit seinen langen Beinen ziemlich fern von uns auf die niedrige Mauer. Dabei verlor er offenbar etwas; er stieg wieder herab, bückte sich und suchte längere Zeit in dem grünen Blattwerk längs der Mauer, bis er es gefunden hatte; dann schwang er sich hinüber und wandelte auf schmalem Fußsteig durch das grüne wogende Korn weiter.

Mit einem tiefen Seufzer der Entlastung trat Gertrud hinter ihrem Schirm hervor, eifrig an ihrem losen Haar mit den feinen Fingern arbeitend, das, immer nicht gehorsam genug, sich jetzt erst recht nicht bändigen lassen wollte.

„Konrad, das geht nicht; das darfst Du nicht wieder thun!“ klagte sie – aber der Blick entzückender, unbewußter bräutlicher Koketterie, der das Verbot begleitete!

„Gieb mir eine Locke!“ bat ich, „liebste Gertrud!“

Sie lachte mich mit ihren weißen, blitzenden Zähnen an, noch immer beide Hände gehoben in anmuthreicher Arbeit.

„Nein, Du hast wirklich schon genug; ich glaube, Du treibst Unfug damit und verschenkst sie selbst wieder als Haarlocken von Dir in Deiner Jugend –“

„Etwas gieb mir, zum Andenken an die Angst, die ich ausgestanden habe.“

Sie stieß mit dem zierlich schlanken Fuß an einen gelben, kantigen Flintstein und schob ihn mir mit übermüthigem Blick ein wenig hin.

„Hier; Du wünschtest Dir ja immer einen Briefbeschwerer –“

Sie hielt inne und sah mich an; dann legte sie mir schnell die beiden nun freien Hände auf die Schulter und neigte sich, ihren Blick in meinen senkend, mir zu, und schöner stiller Ernst lagerte sich um ihren Mund.

„Nein, verzeih, Du sollst Dich nicht vor mir bücken, es war unrecht von mir!“

Und sie bückte sich und reichte mir den Stein. „Nun bitte ich Dich, nimm ihn und lege ihn auf Deinen Schreibtisch; und jeden Morgen, an dem ich Deinen Tisch abstäube und ordne, wenn ich Deine Frau bin, wird er mir die Inschrift tragen: ‚Er soll Dein Herr sein!‘“

Am nächsten Morgen war, wie gesagt, der Kutscher krank zum tiefen Verdruß des Baron, der über die Stärkung entrüstet war, welche der Aberglaube der Leute daraus wieder ziehen würde. Der Kranke lag zu Bett an einer recht bedeutenden, rosenartigen Entzündung des Gesichts und der Hände.

Da hatte ich denn mein Rößlein gesattelt und war hinübergeritten nach Wulfshagen. Immer die alte Herzlichkeit und Freundlichkeit drüben, so oft ich kam; ein sehr offenbarer Händedruck außerdem von Gertrud, und dann und wann ein schneller, heimlicher Blick – so war’s ja stets, und mir war’s wieder so recht urbehaglich zu Muth. Ich hatte die Geschichte von dem Kutscher und dem merkwürdigen, scheinbar begründeten Widerwillen der Leute gegen das Glockenläuten erzählt, da bemerkte ich einen Reiter, der in scharfem Trab näher kam und auf den Hof einbog. Ein Gefühl körperlichen Unbehagens beschlich mich; ich erkannte Sternhagen von Finkenfelde. Aber was konnte ich machen?

Kurz darauf saß er breit und dick am Kaffeetisch und war die Liebenswürdigkeit selbst. Auch gegen mich.

„Sind Sie denn nicht mit Ihrem Herrn Baron zum Vortrag gefahren?“ fragte er verwundert; „das wäre doch etwas für Sie gewesen.“

Ich erklärte auch ihm den Fall. Er hörte aufmerksam zu.

„Hören Sie ’mal,“ sagte er plötzlich, „die Sache ist offenbar mehr als Aberglaube; da steckt etwas dahinter. Ich hatte im vorigen Jahre einen ganz ähnlichen Fall. Hinter meiner Kegelbahn tummelten sich die Kegeljungen gewöhnlich in ihren Freizeiten, und bei ihnen traten auch immer allerlei sonderbare Krankheitserscheinungen auf, so daß ich zuletzt kaum noch einen bekommen konnte; die Kegelbahn galt für verhext. Endlich kam ich darauf, den Platz zu untersuchen, und fand die Stelle hinter dem Bretterhaus dicht mit einem sehr hübschen Gewächs bestanden, mit Stauden etwa zwei bis drei Fuß hoch, die blanke grüne Blätter und weiße Blüthen trugen. Da hatte ich mit einem Male die Lösung des Räthsels: das infame Unkraut war so teufelsmäßig giftig, daß mein Tagelöhner, den ich mit der Ausrottung beauftragt hatte, vier Wochen lang krank lag mit Blasen und Geschwüren am ganzen Körper unter starker Lähmung der Hände –“

Da fuhr ich auf Sternhagen los und packte seine Schulter und jubelte: „Herr, das ist ja das leibhaftige Rhus toxicodendron!“

Er sah mich erstaunt an. „Na, Ihnen rappelt’s wohl ein bißchen, Herr Doktor, daß Sie so vergnügt aussehen darüber! Mir war die Geschichte ganz verdammt unangenehm, und ich hab’ mich den Henker drum gekümmert, wie das Zeug hieß.“

„Herr Sternhagen, haben Sie alles ausrotten lassen?“ fragte ich gespannt.

„Unkraut vergeht nicht!“ lachte er; „habe nicht wieder nachgeschaut, aber es sollte mich wundern, wenn nicht ein Stück Wurzel drin geblieben wäre beim Ausreißen. Der dicke weiße Saft quoll nur immer so heraus.“

„Und wurde bald schwarz an der Luft und an der Sonne?“

„Zu dienen; und nachher kratzten und pickten die Hühner in der frischgegrabenen Erde – es war Mitte Mai – und sämmtliche Hennen hielten sofort inne mit Eierlegen und – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf! – wir hatten bis Mitte August kein einziges Ei mehr; von da an aber so überaus reichlich bis zum Winter, wie noch nie sonst.“

„Giftsumach, Giftsumach!“ jubelte ich, ein entzückter Botaniker; „erlauben Sie, daß ich einmal in Ihrem Garten Nachsuchungen halte?“

Ich mußte ihm mit meiner Bitte einen großen Gefallen gethan haben, denn er sah mich sehr vergnügt an.

„Prächtig!“ sagte er schnell – und sich an Herrn Erhard wendend, setzte er hinzu: „Aber dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: kommen Sie gleich einmal alle zu mir armem Junggesellen, auch die edlen Frauen,“ – er verneigte sich gegen Frau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_735.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)