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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 47.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Sakuntala.

Novelle von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


6.

Wochenlang kämpfte Astrids zartes junges Leben einen schweren Kampf gegen den erbarmungslosen Würger, der immer von neuem seine Knochenhände ausstreckte, um die liebliche Beute zu empfangen. Mehr als einmal schien das schwache Daseinsflämmchen dem Erlöschen nahe, so nahe, daß der Sanitätsrath selbst die Hoffnung aufgab, es brennend zu erhalten. Und dennoch erwies sich Astrids feine Natur stark und biegsam genug, um dem schweren Angriff zu widerstehen.

Eines Tages durfte der Arzt – nicht ohne eine leise Rührung in der Stimme – Gerhard mittheilen, daß die Gefahr als beseitigt anzusehen sei, und er fügte hinzu, daß er jetzt nichts mehr dagegen einzuwenden haben würde, wenn der Bräutigam seiner Braut einen kurzen Besuch abstatte. Mit klopfendem Herzen überschritt Gerhard die Schwelle des Krankenzimmers. Er hatte ja Zeit genug gehabt, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten; aber jetzt, da er wirklich herangekommen war, befiel den sieggewohnten Künstler eine Bangigkeit, wie er sie nicht einmal empfunden hatte, als er zum erstenmal vor ein tausendköpfiges Publikum hingetreten war.

Doch seine Beklommenheit wich, als er dann neben Astrids Lager stand. Wie gewaltig hatten diese letzten Wochen sie verändert – und doch, wie schön und lieblich war sie selbst in dieser durchsichtigen Blässe einer kaum dem Tode Entronnenen!

Sie hatte Gerhards Eintritt nicht sogleich bemerkt, und erst als die Pflegerin ihr einige Worte zuflüsterte, schlug sie die Augen zu ihm auf. Was in diesen schönen, leuchtenden Augen schimmerte, war zugleich Zärtlichkeit und kindlich scheues Zagen. In ihrem Bewußtsein mochten sich Traum und Wirklichkeit noch nicht scharf genug von einander geschieden haben, und wenn die Fieberphantasien jener ersten Nacht in ihrem Gedächtniß überhaupt einen Eindruck zurückgelassen hatten, so waren sie jedenfalls von einem Schleier umwoben, welchen Astrid selber nicht zu heben wagte aus Furcht, daß das ganze herrliche Gebäude bei der leisesten Berührung in nichts zerfließen konnte.

Doch Gerhard war von vornherein entschlossen gewesen, jeder Unklarheit und Ungewißheit ihrer Lage schon mit dem ersten Wort ein Ende zu machen. Er beugte sich auf sie herab, und indem er mit seinen Lippen flüchtig ihre weiße Stirn berührte, flüsterte er so leise, daß ihn die um einige Schritte entfernte Pflegerin nicht mehr verstehen konnte:

„Glück auf zur Genesung, meine geliebte Braut!“

Ein seliges Lächeln ging über Astrids Züge. Ein Hauch jungfräulicher Scham


Ein glücklicher Fund.
Zeichnung von W. Claudius.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_789.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2020)