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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Der Abend fiel rasch ein, und nur über Arnsdorf, tief unten im Thal, hing noch ein rothes Gewölk, vor dem der Schattenriß eines Kirchthurms aufragte. Rechts daneben zog sich ein langes schloßartiges, matt erleuchtetes Fabrikgebäude, dessen Fenster durch den Abendnebel hin gespenstisch flimmerten. Lehnert, der rüstig zuschritt, schickte sich eben an, die Fenster des obersten Stocks zu zählen, als er heftig zusammenschrak. Auf dem Kapellchen, an das er bis auf fünfzig Schritt heran war, begann es eben zu läuten und die zwischen dem Sparrenwerk hängende Glocke klang mit ihrem dünnen Tone hell und scharf durch die Luft. Es war dasselbe Läuten, das gestern, bald nach seiner Rast am Quell, vom Thale her zu der Kammhöhe hinaufgedrungen war, und unwillkürlich hielt er an und suchte, während er sich rückwärts wandte, die Stelle, drauf er gestern um eben diese Stunde gestanden hatte. Da war auch die Mondsichel wieder, und so schwach in diesem Augenblick ihr Licht war, so war es doch hell genug, den Weg am „Gehänge“ hin deutlich zu zeigen, auf dem er gestern um fast dieselbe Zeit emporgestiegen war. Und dort war die Stelle, wo der Seitenpfad, an dem Brunnen vorüber, in scharfer Krümmung abbog, und er mühte sich, ob er die nach der Hampelbaude hinüberführende Querlinie vielleicht verfolgen könne. Jetzt war sie da, die Linie, und jetzt wieder nicht, je nachdem die Phantasie mit ihm spielte, bis er mit einem Male einen Aufblitz und ein Rauchwölkchen sah und gleich danach den Widerhall eines Schusses durch die Berge rollen hörte.

Die Sinne vergingen ihm fast. Aber ein viel Erschütternderes harrte seiner im nächsten Augenblicke, denn ehe noch das Rollen von Schlucht zu Schlucht verhallen konnte, klang es deutlich vom Berge her zu Thal: „Hilfe!“

Lehnert hielt sich an dem das Kapellchen sammt seinem dazu gehörigen Schulhaus einfassenden Heckenzaun und horchte hinauf, ob sich der Ruf wiederholen würde. „Ja,“ „nein,“ und dann wieder „ja.“ Und von einer furchtbaren Angst geschüttelt, war er bald nur noch von dem einen Verlangen erfüllt, die Stimme von da oben nicht mehr zu hören, dem Hilferuf zu entfliehen. Aber wohin? Exner, das ganze Dorf, alles schien ihm noch im Bereich der Stimme zu liegen, im Bereich des Hilferufes da oben vom Gehänge her, und so lief er denn weiter bergab, um die Nacht in Arnsdorf oder wo’s sonst sei, nur weit, weit ab zu verbringen.

Er war schon halb bis nach Arnsdorf heran und wollte eben in ein Wäldchen einbiegen, das die Krummhübler das „Birkicht“ nennen, als er andern Sinnes wurde, plötzlich in seiner Flucht anhielt und sich auf einen der vielen Baumstämme setzte, die hier, am Waldsaume hin, aufgeschichtet lagen.

„Es geht nicht. Ich kann so nicht weiter. Er lebt, es war seine Stimme . . . Um Gottes Barmherzigkeit willen, vierundzwanzig Stunden . . . so viel tausend tausend Sekunden . . . Ich muß es anzeigen, daß ich einen Hilferuf gehört habe . . . bei Zoelfel oder Exner oder im Gerichtskretscham. Und sie müssen diese Nacht noch hinauf, diese Stunde noch.“

Und nun schwieg er, weil ihm mit einemmal der Gedanke kam, daß er sich, wenn er spräche, verrathen würde. Bald aber nahm er sein Vorhaben wieder auf.

„Nein, ich werde mich nicht verrathen. Gerade daß ich es sage, das wird mich retten und wird alle Welt glauben machen, daß ich schuldlos sei. Bin’s auch . . . Und wenn er mich erkannt hat? Er hat mich nicht erkannt. Und Vermuthung ist kein Beweis. Und wenn doch? Nun denn, dann mag mir das Messer an die Kehle gehen. Ich kann ihn nicht verkommen lassen in seiner Noth und seinem Blut.“

Und er wandte sich wieder und stieg die nach Krummhübel zurückführende Berglehne fast noch schneller hinauf, als er herabgekommen war, und es war noch nicht zehn Uhr, als er vor Exners „Schneckoppe“ hielt. Da wollt’ er hinein und sah durch die Fenster. Aber es waren zu viel Fremde da; so stieg er denn weiter hinauf, bis er an den Gerichtskretscham kam. Da war es stiller und nur Einheimische waren da, was ihm paßte. Vorher aber übersann er noch einmal in aller Vorsicht, was er sagen wolle. Da war denn das nächste, was ihm einfiel, daß er das Rufen nicht schon vor einer Stunde gehört haben dürfe, sondern in diesem Augenblick erst. Und nun trat er ein und machte Meldung und begrüßte Maywald und Neigenfink und den alten Gerichtsmann Klose, die sich eben zum Skat niedergesetzt hatten.

Aber keiner rührte sich und das Spiel ging weiter. „Grand mit vieren,“ sagte der alte Gerichtsmann. „Und nun komm, Lehnert, und sieh mit hinein, verstehst es ja, so was lernt man bei den Soldaten . . . Und gerufen hat es, sagst Du … Das sind Fremde … junge Leut’ … Heute früh kamen Breslauer hier durch, ein ganzes Rudel, Gymnasiasten, oder wohl gar welche von der Kunstschule. Das ist dann ein ewiges Singen und Rufen. Und das verdammte Schießen dazu . . . Soll eigentlich nicht sein . . . Und wenn Opitz ’mal einen packt, dann is er sein Terzerol tos oder auch seinen Revolver. Denn ohne Revolver geht es heutzutage nicht mehr . . . Du giebst, Maywald. Aber was Ordentliches . . . Dann is er sein Terzerol los, sag’ ich, und die Geldstrafe hat er dazu . . . Wetter, ist das ein Blatt! Aber das kommt von solchen Geschichten, da grault sich ’ne gute Karte . . . Nimm einen Stuhl und rücke ran, Lehnert, und hilf mir aus der Patsche!“

„Kann nicht, Gerichtsmann Klose,“ sagte Lehnert. „Ich war heute schon drüben und bin müde zum Auslöschen . . . Und Ihr meint also, es wäre nichts und man hätte keine Pflicht, hinaufzusteigen und nachzusehen? Von dem Schuß will ich nichts sagen, geschossen wird immer. Aber das Rufen. Es klang so, ja, wie sag’ ich, es klang so, wie wenn es was wäre.“

„Ja, wie wenn es was wäre,“ lachte Klose, während Maywald zustimmte, „was ‚sein‘ wird es wohl. Aber was? Ein Kommis, der seines Prinzipals Gelder zu früh einkassirt hat!“

Es war Lehnert nicht unlieb, die Skatherren, die zugleich zu den Dorfhonoratioren zählten (denn auch Neigenfink, der sich übrigens zurückhaltender verhielt, war Gerichtsmann), so leichthin sprechen zu hören. Es gab ihm einen Theil seiner Ruhe wieder. Sie haben am Ende doch recht. Und eigentlich kann’s auch nicht anders sein. Es ist schon zu lange her . . . Aber wenn es doch wäre . . . wenn es doch wäre . . . “

Draußen vor dem Kretscham stand ein Ackerwagen. Lehnert setzte sich auf die Deichsel und sah das Gehänge hinauf und horchte wieder mit gespanntem Ohr. Aber alles blieb still. So ging er denn zuletzt auf Wolfshau zu. Bei Frau Opitz war noch Licht, und als er vorüher ging, schlug Diana an. Sonst rührte sich nichts.

Und nun war er wieder auf dem Inselchen drüben und stieg in seine Kammer hinauf. Eine kleine Weile noch jagten sich allerlei Bilder und Gedanken durch seine Seele. Dann schlief er ein, fest und schwer und ohne Traum.


12.

Die Skatpartie blieb zurück, war aber nicht bestimmt, ungestört zu gutem Ende zu kommen, denn wenig mehr als eine halbe Stunde nach Lehnerts Aufbruch hörte man draußen ein Sprechen und Weinen, und ehe die Skatherren noch fragen konnten, was es sei, trat Frau Opitz ein, um drinnen in der Stube zu wiederholen, was sie schon draußen im Flur der Kretschamwirthin erzählt hatte. Alles in ihrer Rede drehte sich um den Mann und sein Ausbleiben. Opitz habe gestern spät nachmittags die Försterei verlassen und sei nach der Hampelbaude hinaufgestiegen, um oben im Wald den Holzschlägern den Wochenlohn auszuzahlen. Das sei nun über vierundzwanzig Stunden und noch sei er nicht zurück, weshalb sie fürchte, daß ihm etwas zugestoßen sei. All das wurde vorwiegend zu dem Aeltesten, zu Gerichtsmann Klose gesprochen, einem rüstigen Fünfziger, der, weil er gerad’ im Verluste war, keine Lust hatte, das Spiel unterbrochen zu sehen. Er suchte deshalb der heftig schluchzenden Frau nach Möglichkeit zuzureden und dabei, so weit es ging, ohne geradezu zu verletzen, einen leichten und heiteren Ton anzuschlagen. Opitz werde gute Gesellschaft und vielleicht sogar eine Skatpartie gefunden haben, so was käme vor, wie Frau Opitz ja jetzt mit eigenen Augen sähe. Solch Ausbleiben sei nicht schlimm. Alle Frauen ängstigten sich, wenn die Männer nicht pünktlich zu Hause seien, aber das kenne man schon, mit der ganzen Angst sei’s nicht weit her und sei eigentlich alles bloß, um den Mann, dem man nie recht traue, hinterher desto fester am Bändel zu haben. Er sprach noch eine gute Weile so weiter, unter beständigem Niederlegen und Wiederaufnehmen seiner Karten, und schien ernstlich gewillt, sich durch diese „Habereien“ der guten Frau nicht stören zu lassen. Als Frau Opitz aber nicht nachließ und in ihrem Bitten und Drängen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_092.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)