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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Ah, das ist schön,“ sagte Ruth. Obadja aber nickte Ruth zu und fuhr dann fort: „Und als die Seuche fort und aus dem Lande war, da schrieb er: ‚es war all die Zeit über, als ob ein Engel mit dem Schwert mein Haus vertheidigt hätte, so daß mir kein Leid widerfahren durfte.‘ Und während dieser Zeit war es auch, daß er das schöne Lied dichtete, das, wie’s ihn aufrichtete, seitdem so viel tausend andere mit aufgerichtet hat.“

Die Lichter am Baum waren schon lange vorher gelöscht worden. Auch im Kamin fiel das Feuer zusammen und glühte nur noch dunkel. Aber die goldnen Nüsse blinkten in dem tiefen Licht nur um so goldner und der Christengel schwebte darüber.

„Ich denke, wir trennen uns,“ sagte Obadja. „Ruth, singe mir noch einmal die erste Strophe. Das soll heute mein Nachtgebet sein.“

Ruth that, wie ihr geboten.

Dann nahm Obadja das zunächststehende Licht, grüßte die noch Versammelten und ging auf sein Zimmer zu.

Auch die andern erhoben sich. In Lehnert aber reifte in dieser Nacht ein Entschluß, mit dem er seit Wochen und Monaten gerungen. Unter den überwältigenden Eindrücken der Feier, während der Ton von Ruths Gesang noch fortklang in seinem Ohre, drang es in ihm durch: es muß ein Ende gemacht werden, so oder so!

* * *

In der Halle war es um die Mittagszeit des folgenden Festtages leer und still. Die Indianerkinder hatten nach dem Frühgottesdienst die Erlaubniß bekommen, die Geschenke, die sie am Abend zuvor erhalten, von der großen Tafel wegzunehmen, und waren fröhlich lärmend nach ihren Dörfern abgezogen. Nur der Weihnachtsbaum ragte in dem Dämmerlichte – der Tag war trüb und grau – empor und erzählte von den glücklichen Stunden, die an ihm vorübergerauscht waren.

Obadja hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und eine halbe Stunde später erschien Ruth, um ihm das Frühstück zu bringen, das er um diese Zeit zu nehmen Pflegte. Sie setzte das Tablett vor ihn hin und wollte wieder gehen, aber er hielt sie fest.

„Du bist so still, Ruth. Hast Du mir nichts zu sagen?“

„Nein. Oder doch nur das eine, das Du längst weißt, daß ich glücklich bin und Dich liebe.“

„Und bist Du glücklich?“

„Ja.“

Sie sagte das mit einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß. Und dann küßte sie seine Hand und verließ das Zimmer.

Sie wollte an dem Weihnachtsbaum vorüber die Halle durchschreiten, fuhr aber zusammen, als ihr Lehnert, den der Baum bis dahin verdeckt hatte, plötzlich entgegen trat. Indessen es währte nicht lang; im nächsten Augenblicke lachte sie wieder. „Lehnert, Du hier? Du schleichst ja wie durch den Forst.“

Sie wußte nicht, wie das Wort ihn traf, und setzte scherzhaft und in wiedergewonnener guter Laune hinzu: „Du darfst nicht vorher die goldnen Nüsse zählen; dazu ist Zeit heut abend, wenn wir den Baum plündern.“

Lehnert versprach alles und fragte dann, ob der Vater in seinem Zimmer sei.

„Willst Du zu dem?“

„Ja.“

„Und das heut am Weihnachtstag und gleich nach der Predigt? Ei, das muß etwas Großes sein.“

„Ist es auch. Ich will ihn um etwas bitten. Und höre, Ruth, dabei fällt mir ein, Du könntest mir Glück dazu wünschen.“

„Wenn es etwas Gutes ist.“

„Ich glaube, daß es etwas Gutes ist.“

„Nun, dann von ganzem Herzen!“

Sie gab ihm die Hand, und während sie nach links hin und weit um den Tisch herum, auf den offenstehenden Flur zuschritt, ging Lehnert auf Obadjas Zimmer zu, von dessen Thür er den Vorhang zurückschlug.

Obadja saß an seinem Arbeitstisch, genau wie damals, als Lehnert zum ersten Male hier eintrat, und ganz wie damals gab er sich und seinem Stuhl eine rasche halbe Wendung und sagte: „Nun, Lehnert, was bringst Du? Nimm Platz!“

Lehnert setzte sich auch wirklich, schwieg aber befangen. Endlich war er seiner Verlegenheit Herr und begann damit, ihm für das zu danken, was er gestern abend über den Valerius Herberger gesagt habe. Das hab’ ihn die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Er fühle, daß das das rechte Leben sei: sich, mit Gott im Herzen, vor dem Tode nicht zu fürchten. Und solches Leben zu führen, das sei so recht seine Sehnsucht. Und wenn ihn der Teufel der Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit nicht verblende, so möcht’ er wohl sagen dürfen, er glaube, daß er nicht bloß die Sehnsucht, sondern auch die Kraft dazu habe.“

„Glaub’s, Lehnert, glaub’s . . . Aber Du wolltest mir etwas anderes sagen.“

„Ja,“ bestätigte Lehnert, „das wollt’ ich. Und wenn es vermessen und hoffnungslos ist, was ich sagen werde, dann will ich fort und zwar lieber heut wie morgen.“

Und nun hielt er inne, gewärtig dessen, was Obadja sagen würde.

Der aber schwieg beharrlich und schien nur durch Blick und Handbewegung andeuten zu wollen, daß Lehnert weiter sprechen möge. Da fiel denn auch alle Furcht von ihm ab und er ließ sein Herz nicht bloß reden, sondern ihm alle Zügel schießen. Er liebe Ruth. Er wisse wohl, daß er ein schlechter Mensch und des Glückes, das er begehre, durchaus unwürdig sei. Selbstgerecht und gewaltthätig sein, das seien die Fehler seiner Jugend gewesen und die Wurzeln des Verbrechens, um dessentwillen er seine Heimath habe meiden müssen, aber er glaube sagen zu dürfen, das alles liege jetzt weit zurück, und seit dem Tage, der seine Bekehrung gebracht, steh’ es fest in ihm, daß die Reinheit und der Friede des Herzens das einzige Heil seien. Das Lied, das damals gesungen worden sei, das hab’ ihn bekehrt und wenn nicht das Lied, so die Stimme.

„Und wenn nicht die Stimme, so Ruth,“ lächelte Obadja. Aber Lehnert sah es nicht. Er hörte nur heraus, was freundlich darin klang, und wiederholte mit Unbefangenheit: „Ja, Ruth! Sie ist es, der ich alles schulde, und sie wird mir auch dann noch das Glück bedeuten, wenn ich es in diesem Augenblicke für immer hinschwinden sehe. In Noth und Armuth und in noch Schlimmerem bin ich großgezogen worden. Das heimathliche Haus hat nichts für mich gethan und die Schule nicht viel, und alles, was ich bin, das hat zu Gutem und Schlimmem das Leben aus mir gemacht. Ich sehe hinauf zu Ruth. Aber meine Liebe ist groß und gleich groß mein Wille, sie glücklich zu machen. Mein, Wille und hoffentlich auch meine Kraft.“

Und nun sah er Obadja fest an und erwartete sein Urtheil. Der Alte schwieg aber und begegnete seinem Blicke mit nichts als freundlicher Ruhe. Dann erhob er sich, ging auf Lehnert zu und sagte: „Weiß Ruth davon?“

„Nein.“

„Nun, dann gedulde Dich, Lehnert! Es ist Rahel, um die Du wirbst . . . Ich werde Dir Antwort sagen.“


22.

„Gedulde Dich! Ich werde Dir Antwort sagen.“ Hundert mal wiederholte sich’s Lehnert, und als Obadja am andern Morgen die Andacht gehalten und wie herkömmlich ein Bibelkapitel gelesen hatte, hoffte Lehnert, daß nun das Wort, das über sein Leben entscheiden sollte, gesprochen werden würde. Aber das Wort blieb aus und er verzehrte sich tagelang darüber, daß es ausblieb. Er wurde wie krank im Gemüth und mied es nach Möglichkeit, mit Ruth und mehr noch mit Obadja zusammenzutreffen. Als aber, ohne daß ein Wort laut geworden wäre, das neue Jahr angebrochen war, war er entschlossen, mit dem Elend ein Ende zu machen und sich wieder in sein altes Leben zurückzufinden.

Das wär’ ihm nun freilich einfach unmöglich gewesen, wenn die Haltung Obadjas irgend etwas gezeigt hätte, was auf Mißstimmung oder gar auf Uebelwollen und Ablehnung hätte gedeutet werden können. Aber eher das Gegentheil war der Fall. Keine Begegnung verging, ohne daß Lehnert einen freundlichen Blick erhascht hätte, was noch wuchs, als Obadja sich überzeugte, daß in der That keine Heimlichkeiten zwischen den jungen Leuten bestanden und Ruth ohne jede Ahnung von dem Schritte war, den Lehnert gethan hatte. So kehrte denn ein gewisser Zustand der Ruhe, wenigstens äußerlich, zurück, und wenn Lehnert jetzt, was nur zu oft geschah, seines Weihnachtzwiegespräches mit Obadja gedachte, so hielt er sich immer nur das eine vor, daß der Alte hinzugesetzt hatte: „es ist Rahel, um die Du wirbst.“ Das war, das sah er jetzt ein, mit gutem Bedachte gesagt worden

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