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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Es konnte nicht fehlen, daß der rastlos vorwärts eilende Zeitgeist während der letzten Jahrzehnte an dem Ammergauer Passionsspiele manches änderte. Die Hauptsache: der fromme Eifer der Ammergauer und der erhebende Grundcharakter des Spieles, blieb glücklicherweise erhalten. Was im Jahre 1860 der um seine Gemeinde treu besorgte Pfarrer Daisenberger durch seine poetische Umdichtung am Texte veränderte, hat jenem Grundcharakter nicht geschadet. Auch die Musik ist bisher die alte geblieben. Die Vorstellungen im Jahre 1870 wurden durch den Krieg jäh unterbrochen; damals geschah es, daß selbst der Darsteller des Christus zur Fahne mußte. Was in den letzten Jahrzehnten gründlichst umgestaltet wurde, das sind jene Einrichtungen, die sich auf den Verkehr nach Ammergau, auf Unterkommen und Bewirthung beziehen. Jetzt führt ja der eiserne Schienenweg unter der Ettaler Straße vorüber; eine Reihe von Gasthöfen in Ammergau und den benachbarten Orten sind für den immer mächtiger anschwellenden Zufluß der Passionsgäste eingerichtet; die Bewohner von Oberammergau selbst haben alles gethan, was in ihren Kräften stand, um die zuströmenden Menschenmassen beherbergen zu können. Der Weltcomfort hat sich in dem stillen Waldthale ausgebreitet; und für den, dessen Zeit drängt, ist es heute möglich, am frühesten Morgen von München ausfahrend, das ganze Spiel anzusehen und abends wiederum in München zu sein.

Die Stellung eines lebenden Bildes.
(Vertreibung aus dem Paradies.)

Aber nun treten wir die Fahrt selber an.

Es ist ein sonniger Morgen im Frühling; ein mächtiger Sonderzug trägt uns aus der Halle des Münchener Bahnhofes in die Hochebene hinaus. Flimmernd hangen im Süden, von leichten Morgenwolken überflogen, die Schneefelder der Alpen. Station um Station wird durchfahren; dann taucht der entzückende Spiegel des Starnberger Sees vor uns auf. Heute lassen wir ihn links liegen mit seinen Villen und seinen gleich Schmetterlingen auf der lichten Fläche umhergaukelnden Segelbooten. Wir durcheilen auf den rastlosen Rädern die Moränenlandschaft südwestlich vom See, sehen in weiter Ferne traumhaft den Ammersee schimmern und immer mächtiger die Alpenkette vor uns aufsteigen. Dann erschließt sich zur Rechten in bezaubernder Schönheit der Staffelsee, von der Wetterstein-Kette überragt, und der Zug donnert hinunter in den weiten düsteren Kessel des Murnauer Moors. In der nächsten Viertelstunde schon sind wir rings vom Banne des Hochgebirgs umfangen; klargrün schießt uns ein Alpenstrom, die Loisach, entgegen. Bald wird das weitere Thal zur engen Schlucht, und wo diese wieder zu einem grünen Kessel sich öffnet, liegt Oberau, die Station für Ammergau. Mit ihrem ganzen Riesentrotze schauen die Wände des Wettersteingebirges herein, überall Schnee an den Flanken tragend.

In Oberau ist ein internationales Treiben. Eine ganze Wagenburg harrt hinter dem Bahnhofe. Und nun, wenn der Zug seine Massen entladen hat, rasselt es von dannen wie eine wilde Jagd, mit Geschrei und Peitschenknall. Während die Wagen eine schöne, erst seit ein paar Jahren in die felsige Berglehne gebaute Kunststraße hinaufrollen, wandern Scharen von Fußgängern die alte, jetzt nicht mehr befahrene Straße über den Ettaler Berg hinauf, die ehedem der berüchtigste Marterweg für Roß und Wagen war. Wo dieser Straßenzug seinen höchsten Punkt erreicht, liegt in grüner Thalweitung das alte Stift von Ettal. Das Kupferdach des mächtigen Kuppelbaues, der einst begonnen ward, um ein Seitenstück der Gralskirche zu werden, giebt dem ganzen Bau einen metallenen Charakter. Westwärts fährt der Blick in die herrliche Bergeinsamkeit des obersten Ammerthales, wo hinter schöngeformten schroffen Felsbergen menschenleere Jochsteige nach Tirol hinüberführen und wo eines der Prachtschlösser König Ludwigs des Zweiten, der Linderhof, liegt. Unsere Straße aber führt uns nach Norden, unter weißgrauen Felswänden hin, dann in einen weiten grünen Thalkessel. Und ehe wir’s vermuthen, stehen wir zwischen den ersten Häusern von Oberammergau. Das allererste derselben ist die zierliche Villa, welche sich Frau Wilhelmine von Hillern, die bekannte Schriftstellerin, hier auf einem niedrigen Felshügel erbaut hat.

Wir beeilen uns zunächst, uns ein bescheidenes Unterkommen für eine Nacht zu suchen. Da wir früh an der Zeit sind und die Ammergauer reichlich für Wohnungen gesorgt haben, ist das nicht schwer; bedenklicher mag die Frage für solche werden, die erst am späten Abend vor einem Spieltage eintreffen. Gespielt wird immer an Sonntagen und, soweit es wegen überstarken Besuchs nöthig ist, auch an Montagen, außerdem noch an einigen anderen Wochentagen.

In den Nachmittagsstunden vor den Spieltagen entwickelt sich in der Hauptstraße ein äußerst lebhaftes Treiben (s. unser Bild S. 401). Die Passionsgäste aus allen Kulturländern der Welt schlendern hier durcheinander; zwischen eleganten Amerikanerinnen und Russinnen drängen sich die schlichten Pilger durch, die in ihrer bäuerlichen Tracht aus der Umgebung gekommen und auf dem Stroh der Massenquartiere untergebracht sind. Und Wagen auf Wagen rollt heran, um seine Menschenlast abzuladen; Rossegestampf und Peitschenknall, das Rufen der Kutscher und die Fragen der Gäste; Posthornklänge auf der Gasse, Posaunenstöße eines Orchestermitglieds aus einem Hause; Glockenläuten und Rädergerassel: all das bildet ein etwas verworrenes, aber keineswegs ungemütliches Konzert in der staubdurchzitterten heißen Luft. Von der schwindelnden Höhe des steilen „Kofels“, der mit seiner jäh aufgebauten nackten Felspyramide die westliche Thalmauer bildet, schaut ein schimmerndes Kreuz auf das bunte Treiben herab.

Am Morgen eines Spieltages wird es früh lebhaft in Oberammergau. Glockengeläut und Böllerschüsse geben der Feststimmung Ausdruck; von Süden und Norden kommen noch Fuhrwerke und Fußwanderer, die in grauender Morgenfrühe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_399.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2022)