Seite:Die Gartenlaube (1890) 466.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Mit diesem Stillleben zwischen Badegästen und Schellfischfang dürfte es nun freilich, wenn die Insel dem Deutschen Reiche angegliedert wird, ein Ende haben. Aber ein anderer, ein schwererer Schatten schwebt über dem grün-roth-weißen Eiland. Eine dunkle Kunde will davon wissen, Helgoland habe einst mit Schleswig zusammengehangen. Und wenn es auch mit dem angeblichen früheren Zusammenhang der Insel mit dem heutigen Festland wenigstens in unserer Periode der Erdgeschichte nichts auf sich hat, jene merkwürdig ausgezackten, unterwühlten, zerfressenen Felsbildungen, diese Buchten, Thürme, Säulen, Thore an der Küste, wie deren unsere Abbildungen zeigen, reden eine bedenkliche Sprache.

Zwölfhundert Meter von der Ostspitze des Unterlandes entfernt liegt die Düne, auch sie war einst durch einen Steinwall mit der Insel verbunden. Der Wittklipp, ein weißer Gipsfelsen, schützte den Steindamm vor dem Anprall der Wogen. Aber da kam ein Nordweststurm und das Meer brach den Fels, den die Bewohner geschwächt hatten, weil sie die Gipsbrocken gut verkaufen konnten, und 9 Jahre später trat die verhängnißvollste Katastrophe ein, die Helgoland erlebt hat: am Weihnachtsabend 1720 durchbrachen die Fluthen auch den Steinwall und rissen die Düne auf ewig los vom Mutterlande. Wer steht dafür, daß nicht eines Tages ein anderer Sturm das Unterland begrabe, daß nicht die rastlose Nagearbeit der Wellen einst ihr Ziel finden werde, weil nichts mehr da ist, daran sie ihren scharfen Zahn üben könnten, und daß nicht einst über der Stätte, da vordem der rothe Fels zum Himmel ragte, die Fische des Meeres sicher sich tummeln werden, weil niemand mehr da ist, der sie beunruhige?

Die Frage ist leider nicht ganz unberechtigt. Man hat die Insel genau beobachtet wie einen Kranken, hat sie gemessen und wieder gemessen und den Fortschritt des Zerstörungswerkes in Formeln zu bringen versucht, und man hat ihr schließlich herausgerechnet, wie viele Jahre sie noch zu leben hat.[1]

Unsere Karte zeigt das Ergebnis dieser Messungen und Beobachtungen. Auf derselben bedeutet das schwarz Ausgefüllte die in 44 Jahren, 1845 bis 1889, untergegangenen Felstheile, das mit sich kreuzenden Strichen Gezeichnete aber die Zunahme des Unterlandes. Nimmt man an, daß die Zerklüftung des Felsens in demselben Maße fortschreite, wie es sich aus dieser Zeichnung und aus anderen Berechnungen ergiebt, so erhält man als die mutmaßliche Lebensfrist der Insel rund ein Jahrtausend! Und zwar zeigt es sich, daß nicht des Meeres Brandung allein es ist, was an dem Mark der Insel zehrt, - dies ist vorwiegend nur an der Westseite der Insel der Fall - sondern auch die am Felsrand sich ansammelnden wässerigen Niederschläge üben im Verein mit der Kraft des Frostes ihre unwiderstehliche Sprengwirkung aus. Das ist der Feind, der vornehmlich den Osten der Insel bedroht.

Also müßten wir heute die Insel begrüßen als eine todgeweihte Braut ? Müßten wir zusehen, wie uns der willkommene Gewinn wieder unter den Händen zerrinnt, unaufhaltsam, unrettbar, Jahr um Jahr?

Fast scheint es so! Aber die Politik kennt keine Sentimentalitäten, sie ist ein Handelsgeschäft und fragt nur danach, was ein Gegenstand jetzt und auf absehbare Zeit werth ist - auf tausend Jahre hinaus hat noch kein Staatsmann gerechnet. Was war denn vor tausend Jahren Geschichte? Wie wenig steht noch von dem, was damals groß und stark schien!

Heute ist Helgoland die Insel, welche die Einfahrt in die Elbe und damit den Nordostseekanal, d. h. die Verbindung zweier Meere, die Insel, welche die Weser und den einen unserer zwei großen Kriegshäfen, Wilhelmshaven, beherrscht. Heute ist es der Punkt, der in unserem Besitze uns tausendfältigen Nutzen, in feindlichem uns vielfachen Schaden, in neutralem uns allerlei Unbequemlichkeiten bringen kann. Sollten wir darauf verzichten, weil es diese Rolle in achthundert oder tausend Jahren vielleicht nicht mehr wird spielen können?

Noch ist auch die Frage nicht beantwortet, ob es den hochgesteigerten Mitteln der neuzeitlichen Ingenieurkunst nicht gelingen sollte, das Dasein des Meerfelsens oder wenigstens einzelner Theile dauernd zu sichern. Das Deutsche Reich hat ganz andere Ursache als England, diese Frage mit allem Ernste in die Hand zu nehmen. Dann mögen auch ängstliche Gemüther sich der Zuversicht hingeben, daß auch nach tausend Jahren noch das „Heilige Land" mit schwarz-weiß-rother Flagge den Seefahrer grüßen, daß der späteste Nachfahre noch an seinem Strande sich in der belebenden Woge erquicken und von seiner grünen Höhe das Auge auf dem wunderbaren Leuchten des ewigen Meeres ruhen lassen wird.




Schulschluß und Ferien.

Skizze aus dem Familienleben von Hans Arnold.
(Schluß.)

Der Dampfer "Germania" nahm unsere Gesellschaft freundlich auf. Wie es bescheidenen Ferienreisendeu geziemt, bestieg man die zweite Klasse und hatte sich eben daselbst häuslich einzurichten begonnen, als der erschreckende Zuruf: "Weg da es chimmt a Viech!" alles emporfahren ließ. Wirklich nahmen ein cholerisch aussehender Ochse nebst eitlem sanften Kalbe neben der Familie Langer Platz, entschieden in der Absicht, auch eine Vergnügungsreise zu machen, wenn auch vielleicht mehr zum Vergnügen des sie erwartenden Fleischers als zu ihrem eigenen!

Der Ochse brüllte die ganze Zeit tief und laut in langgezogenen Tönen, was recht nervenberuhigend wirkte und nur den einen Vortheil hatte, daß er das Wimmern des Jüngsten übertönte, welches sich wie alle kleinen Kinder auf Reisen unsäglich unglücklich fühlte und alle ihm sonst eigene philosophische Ruhe eingebüßt hatte.

Mit Einbruch der Dämmerung erreichte man den Ort, der für die nächsten vier bis fünf Wochen den Vorzug haben sollte, Langers zum Aufenthalt und zur Erholungsstätte zu dienen. Die unbesehen gemietete Wohnung erwiese sich trotz dieser Tollkühnheit als sehr hübsch und freundlich, und der erste Eindruck des Landaufenthalts war ein durchaus anmuthender.

Daß die Zimmerthüren unglaublich niedrig waren und die Decken nahe über den Häuptern der Einwohner schwebten, konnte unsere Hausfrau mit verhältnißmäßiger Gemütsruhe ertragen, da sie klein von Gestalt war, ihre Kinder ebenfalls noch nicht „das Maß“ hatten und man überdies mit Zuversicht darauf rechnete, die Ferien größtenteils unter Gottes freiem Himmel zu verleben.

So ergriff man denn ganz wohlgemut Besitz von dem neuen Quartier.

Paul und Karl erwiesen sich allerdings sofort als störend, indem sie schon in der Ankunftsminute die Mutter von beiden Seiten am Kleide zogen und flehten, heute abend noch im See baden zu dürfen, ein unsinniges Verlangen, welches mit der ihm gebührenden sittlichen Entrüstung zurückgewiesen wurde: „Ihr seid wohl verrückt?"

Nach diesem Bescheid langweilten sich beide Jungen sofort bis zur Verzweiflung und verlangten zu wissen, was sie dann überhaupt hier machen sollten, - eine Frage, die sich als Zukunftsschatten düster vor die Seele der Mutter stellte.

Die Köchin, die draußen in dem ihr geweihten Raum das Fläschchen für das Kleine zu wärmen hatte, tobte wie ein Ungewitter umher, denn die Bauart des Ofens war eine ihr fremde, und sie frug sich und alle andern beständig in den höchsten Tönen, wie man denn in diesem Ofen kochen sollte! Der Vorstellung, daß doch Generationen schon hier gekocht und geschmort hätten, setzte sie ein verächtlich ungläubiges Gesicht entgegen und war allem Anschein nach fest entschlossen, sich und der Hausfrau nach Kräften das Leben in der Schweiz zu verbittern. Jeder Hinweis auf die Schönheit der umgebenden Natur wurde von der Köchin mir empfindungsloser Gleichgültigkeit hingenommen, da ihr ein heimischer Biergarten mit dem dazu gehörigen Schlosser, Tischler oder Weichensteller viel anmuthender war als Alpen und See.

Die ersten Tage im neuen Aufenthaltsorte gingen äußerlich und innerlich ziemlich wolkenlos vorüber. Das Wetter war warm und klar und die Kinder konnten durch Spaziergänge und Spiele im

  1. Vgl. Dr. Emil Lindemann, „Die Nordseeinsel Helgoland" (Berlin, 1889, Verlag von August Hirschwald) S. 3 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_466.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)