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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„So? – Und warum hast Du das gethan?“

Marie blickte starr vor sich hin.

„Weil ich einen andern schonen wollte, den ich damals höher stellte als Dich. Weil Engelbert von Brenckendorf es war, den das Eingreifen Lothars am härtesten getroffen haben würde.“

Beinahe tonlos war diese Erklärung von ihren Lippen gekommen. Voll warmen Mitleids ruhte Wolfgangs Blick auf ihrem bleichen Gesicht; aber erst nach einem kleinen Schweigen sagte er mit ruhigem Ernst: „Das war Grund genug, Marie! Auch wenn ich minder schuldig daran wäre, daß Du jener Versuchung ausgesetzt werden konntest, würde ich kein Recht haben, Dir zu zürnen. Auch Stärkere als wir sind unterlegen in dem Zwiespalt zwischen Pflicht und Liebe.“

„Liebe?“

Eine Welt von Schmerz und Bitterkeit lag in dem Ausdruck, mit welchem sie das Wort wiederholte. Dann verbarg sie plötzlich das Gesicht in den Händen, unfähig, sich länger zu beherrschen.

Sacht und liebkosend, fast mit der Zartheit eines Vaters legte Wolfgang seinen Arm um ihren Nacken.

„So viel von mir, Marie! Du hast vor allem Dein Herz erleichtern wollen von der vermeintlichen Schuld, und ich habe Dich nicht daran gehindert. Nun aber laß uns von Dir sprechen und von dem Unrecht, das man Dir gethan hat! Du hast recht gehandelt, daß Du zuerst zu mir gekommen bist!“

„Zu wem hätte ich auch sonst gehen sollen? Bist Du denn nicht der einzige Freund, den ich auf der Welt besitze?“

„Der aufrichtigste jedenfalls, mein liebes Schwesterchen! Aber nun wirst Du mir ohne Rückhalt alles sagen, nicht wahr?“

„Ja – alles!“ bestätigte sie mit festem Entschluß, und eine wie grausame Aufgabe es auch für sie sein mochte, vor einem anderen von ihrem kurzen Liebestraum und von dem kläglichen Erwachen zu sprechen, welches demselben gefolgt war, so nahm sie doch mit trotzigem Muthe die neue Demüthigung auf sich, welche für sie in diesen Bekenntnissen lag. Ohne ihre mädchenhaften Empfindungen zu schonen, berichtete sie alles, was sich seit ihrem ersten Besuche im Hause des Generals zwischen ihr und Engelbert zugetragen hatte; sie verschwieg nichts und sie suchte nichts zu vertuschen oder zu entstellen.

„Nun weißt Du alles!“ schloß sie ihre Beichte, nachdem sie auch den kurzen Auftritt auf dem Bazar geschildert hatte, „und nun ist es an Dir, mir zu sagen, was jetzt geschehen wird.“

Gegen die Polster des Sofas zurückgelehnt, hatte Wolfgang ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen.

„Was jetzt geschehen wird? – Nun, ehe wir davon sprechen, ist es an mir, Dir ebenfalls ein kleines Geständniß abzulegen. Wirst Du mir zürnen, wenn ich Dir sage, daß ich seit Lothars letztem Besuche diese schmerzliche Stunde mit voller Sicherheit vorausgesehen habe?“

Mit großen, erstaunten Augen wandte sich ihm Marie zu. Ein dunkles Roth stieg ihr langsam in die Wangen.

„Also hat er dennoch den Angeber bei Dir gemacht? – 0, das ist schändlich – schändlich!“

„Ich vermag in dem, was Lothar gethan hat, wahrhaftig nichts Schändliches zu erblicken, Marie! Er hat gewiß nicht spionirt; aber Du und Engelbert, Ihr habt es ihm wahrscheinlich sehr leicht gemacht, Euer Geheimniß zu errathen. Und daß er dann mit seiner Entdeckung zu mir kam, geschah vollends in der rechtschaffensten Absicht von der Welt. Er wußte, daß der General zu Eurer Vereinigung niemals seine Zustimmung geben würde, und er wußte auch, daß Engelbert nicht der Mann wäre, sich einem väterlichen Machtwort mit Festigkeit und Entschiedenheit zu widersetzen. Und weil er bei dieser Kenntniß der betheiligten Personen das Ende Deines Romans nur zu gut voraussah, wandte sich Lothar an mich, um meine brüderliche Einmischung zu fordern. Ich sollte Dich warnen und sollte meinen ganzen Einfluß aufbieten, Dich zum Verlassen des Hauses zu bewegen.“

„Mich zum Verlassen des Hauses zu bewegen – ja, das glaube ich gern! – Und was hast Du ihm darauf geantwortet?“

„Ich habe ihm geantwortet, daß ich von der Berechtigung seiner Besorgnisse zwar vollkommen überzeugt sei, daß ich mich aber jeder Einwirkung auf Dein Thun und Lassen enthalten würde, so lange Du die Mittel besäßest, Dich selbst zu schützen. Du bist ja kein Kind mehr, und ich habe drüben in Amerika gelernt, die persönliche Freiheit hochzuhalten. Ein kleiner Kummer, den wir der eigenen Thorheit zu danken haben, ist jedenfalls viel leichter zu ertragen und viel heilsamer für unser künftiges Leben, als der willkürliche Eingriff eines anderen in unser gutes Recht der Selbstbestimmung.“

Vielleicht klangen seine Worte zu wohl überlegt und zu kühl verständig, als daß sie auf Mariens schmerzlich erregtes Gemüth hätten eine wahrhaft wohlthuende Wirkung ausüben können. Sie sah eine Weile still vor sich hin, ehe sie mit leisem Kopfschütteln erwiderte: „Es wäre wohl auch umsonst gewesen, denn ich hätte Dir ja sicherlich nicht geglaubt, was ich meinen eigenen Augen nicht ohne weiteres glauben wollte. Doch es ist müßig, von dem zu sprechen, was unter anderen Umständen hätte geschehen können! Nur das, was jetzt geschehen wird, sollte uns kümmern.“

„Gewiß! Und ich meine, es wird uns nicht viel Kopfzerbrechens machen, darüber ins Reine zu kommen. Natürlich bleibst Du jetzt bei mir.“

„Du mißverstehst mich, Wolfgang! – Nicht mein künftiges Schicksal ist es, das mir Sorge macht, und eine andere Art von brüderlichem Beistand hatte ich von Dir erwartet. Muß ich fürchten, daß Du ihn mir verweigerst?“

„Welch ein Zweifel, Marie! Doch was verlangst Du, daß ich thue? Soll ich hingehen, von dem Vetter Engelbert zu fordern, daß er seine Verlobung mit der Gräfin Hainried aufhebe, um Dir sein Versprechen zu halten und Dich zum Altar zu führen?“

„Niemals! Wenn er mich jetzt auf den Knieen anflehte, seine Gattin zu werden, so würde ich keine andere Antwort für ihn haben als einen Ausdruck des Widerwillens und der tiefsten Verachtung.“

„Genau so habe ich es erwartet! – Aber da Du keinen Anspruch mehr erhebst auf seine Liebe und auf seine Hand, welche andere Genugthuung ließe sich dann noch von ihm verlangen?“

Ein Ausdruck naiven Erstaunens trat auf ihr Gesicht.

„Und das kannst Du fragen? Du, der deutsche Edelmann und ehemalige Offizier, kannst mich, ein Mädchen, danach fragen?“

„Soll ich ihn etwa auf Degen oder Pistolen fordern in dem abgeschmackten Wahn, daß eine Nichtswürdigkeit durch eine Narrheit wieder gut gemacht werden könnte? Nein, mein liebes Schwesterchen, gegen eine flotte Schlägermensur mit Binden und Bandagen habe ich zwar im Grunde wenig einzuwenden; ein Zweikampf mit tödlichen Waffen aber und zwischen Männern, die über die Studentenjahre hinaus sind, ist ein verbrecherischer Unsinn, der für vernünftige Leute unseres Schlages gar nicht erst in Frage kommen sollte. Würdest Du Dich denn getröstet fühlen oder Deine Ehre für wiederhergestellt erachten, wenn Du mich morgen mit durchschossener Stirn vor Dir liegen sähest?“

Obwohl er die letzten Worte in einem fast scherzenden Ton gesprochen hatte, wirkte das Bild, das sie vor Mariens Phantasie heraufbeschworen, doch so furchtbar und erschreckend auf sie ein, daß sie ihm in tiefer Beschämung beide Hände entgegenstreckte.

„Vergieb mir, Wolfgang! Die Vorstellung, daß Du Engelbert fordern würdest, war mir bis zu diesem Augenblick so selbstverständlich erschienen, daß ich mir der Herzlosigkeit dieser Zumuthung wahrhaftig nicht bewußt geworden war. Aber Du hast recht: die Gesetze der Ehre sind zu grausam, als daß man ihnen immer und überall Genüge tun dürfte.“

Sie war aufgestanden, doch Wolfgang nahm ihre Hand und zog sie sanft auf den Sitz zurück.

„Die Gesetze der Ehre? – Verstehen wir uns denn noch immer so wenig, meine liebe Marie? Ist die Welt, in der man Dir so schnöde mitspielen konnte, auch heute noch die Welt Deiner Ideale? Hat Dich selbst diese harte Schule nicht zu lehren vermocht, wieviel Herzlosigkeit, Feigheit und schnöde Selbstsucht sich auch hinter all dieser blinkenden Ritterlichkeit und hinter dem stolzen Gerassel mit fleckenlosen, adligen Wappenschildern zu bergen weiß?“

„Könnte es Dir denn Genugthuung bereiten, Wolfgang, wenn es so wäre?“

„Genugthuung – nein! Dazu war der Preis, den Du für diese Erfahrung zu zahlen hattest, denn doch zu hoch! Aber daß Du nur mit Hilfe mancher herben Enttäuschung aus dem unheilvollen Zwiespalt zu erlösen sein würdest, in welchem ich Dich bei meiner Rückkehr traf, das, meine liebe Marie, war mir allerdings von vornherein nicht zweifelhaft.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_474.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)