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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Verantwortung hin anzuhalten, auf seinem planlosen Umherwandern durch die Straßen fast eine Stunde lang verfolgt, und sie hatte endlich festgestellt, daß er in dieses Haus – in Dein Haus, Marie – eingetreten sei. Und sie gab mir aufs neue eine eingehende Beschreibung seiner äußeren Erscheinung – eine Beschreibung, welche mich nicht länger zweifeln lassen konnte, daß er kein anderer sei als jener Hudetz, der mich vor Deiner Thür meuchlerisch überfiel und dem ich unklug genug seine Freiheit ließ, weil Du ihn Deinen Freund genannt hattest. Einen Mörder aber kann man doch wohl auch eines Diebstahls fähig halten. Ich glaube jetzt, daß er der Räuber des Madonnenbildes ist, und ich bin entschlossen, seine schleunige Verhaftung herbeizuführen mit allen Mitteln, welche mir zur Verfügung stehen. Das allein ist es, Marie, warum ich noch einmal hier bin. Nur wenige Fragen habe ich an Dich zu richten. Vor allem: Ist der Mann, von dem ich sprach, heute in der That bei Dir gewesen?“

„Und wenn ich mich nun weigerte, darauf eine Antwort zu geben?“

„Das wirst Du nicht thun, Marie; denn es giebt ein Gesetz, welches Dich dazu zwingen kann.“

„Und würdest Du – Du dieses grausame Gesetz gegen mich in Anwendung bringen?“

„Ich habe geschworen, meine Pflicht zu thun. So lange ich nur ein ausübendes Werkzeug der Gerechtigkeit bin, giebt es für mich keinen Unterschied der Person.“

Marie richtete sich hoch auf. Ihre Schwäche und ihre Bestürzung waren überwunden, aus ihren Augen leuchtete das Feuer einer unbeugsamen Entschlossenheit.

„Und wenn er nun noch immer bei mir wäre, so würdest Du ihn verhaften – nicht wahr?“

„Gewiß, ich müßte ihn verhaften!“

„Wie Du ihn auch fändest?“

„Wie ich ihn auch fände!“

„Nun wohl! – Er ist nicht bei mir – er hat mich längst wieder verlassen.“

„Und Du weißt nichts von seinem Aufenthalt – nichts von seiner Schuld?“

„Nichts!“

„Marie!“ – Sein Athem ging schwer. „Um Deinetwillen flehe ich Dich an: sage mir die ganze Wahrhrit!“

„Ich sagte, was ich sagen mußte!“

Er that einen Schritt vorwärts, vielleicht um seine Bitte zu wiederholen und um ihr einen noch innigeren Nachdruck zu geben. Er mußte jetzt durch die offene Verbindungsthür einen Theil des Nebenzimmers übersehen können, und in der Erkenntniß der Gefahr wollte ihm Marie mit ihrem eigenen Körper den Ausblick verwehren. Aber es war zu spät. Ein Aufschrei, so schmerzlich, so verzweiflungsvoll, wie sie ihn aus der Brust dieses ernsten, ruhigen Mannes nimmer zu hören erwartet hätte, kam von seinen Lippen, und indem er mit ausgestrecktem Arm auf das Bild unter dem Spiegel deutete, rief er fast weinend:

„Allmächtiger Gott, Marie, was hast Du gethan?“

„Was ich gethan habe? Nun wohl, sieh selbst - und verhafte mich mit ihm, wenn Deine Pflicht es Dir gebietet!“

Sie ergriff seine Hand und zog ihn in das Zimmer hinein.

Da stand, zu seiner ganzen Größe aufgereckt, Hudetz neben dem Ruhebette. Ein Ausdruck herzzerschneidender Seelenangst war auf seinem Gesicht.

„Sie kommen! – Sie kommen! – Heilige Maria, bitte für mich! – Gnade! – Gnade!“

Er warf die Arme in die Luft und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Tief erschüttert war Lothar für einige Sekunden unbeweglich geblieben, dann aber beugte er sich nieder, hob die leichte Gestalt des Unglücklichen auf und legte sie behutsam wieder auf das Sofa nieder.

„Er stirbt!“ sagte er leise. „Geh’ hinaus, Marie!“

Aber sie ging nicht. An den Thürpfosten gelehnt, blickte sie unverwandt nach dem Ruhebett hinüber, an dessen Kopfende Lothar auf dem Fußboden kniete, die Hand des Studenten in der seinigen haltend und ihm tiefernst in das verwüstete Antlitz schauend.

„Gnade! – Heilige – Maria – bitte – für – mich!“ klang es noch einmal leise wie ein Hauch durch die tiefe Stille des Gemaches, dann reckte sich die elende Gestalt auf dem Lager ein wenig aus, – der qualvoll gespannte Ausdruck verschwand allgemach aus ihren Zügen, und ein Seufzer gleich einem Aufathmen namenloser Erleichterung entfloh den blutlosen Lippen.

Lothar legte die Hände des Todten übereinander und schloß ihm mit sanftem Druck die Augen.

„Gott sei Dir gnädig!“ sagte er leise. Dann richtete er sich auf. Mariens Blick begegnete dem seinigen.

„Du mußt fort!“ erklärte er, einen Schritt auf sie zutretend. „Geh’ zu Deinem Bruder, Marie!“

Und da sie zaudernd stehen blieb, ohne sich zu regen, wiederholte er noch dringender:

„Geh’ zu Deinem Bruder – ich bitte Dich darum! – Was hier noch zu thun ist, magst Du getrost mir überlassen!“

Wohin waren all ihr Stolz und ihre trotzige Widerstandskraft gekommen! Gehorsam ging sie in das Nebenzimmer, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Als sie nach wenig Minuten zurückkehrte, stand Lothar in tiefem Sinnen vor dem Bilde der Madonna im Rosenhag. Bei dem Geräusch ihrer Schritte wandte er sich nach ihr um, und eine mächtige Bewegung spiegelte sich in seinen sonst so ruhigen Zügen. Aber er beherrschte sich dennoch und seine Stimme klang kaum verändert, als er – Marie zur Thür geleitend – sagte:

„Zur vollen Aufkärung dieses tragischen Kriminalfalles wird man Deines Zeugnisses nicht entrathen können. Aber Du sollst nicht gezwungen sein, es vor mir abzulegen. Unter den obwaltenden Umständen wird man die Angelegenheit auf mein Verlangen ohne Zweifel sogleich einem anderen Richter übertragen.“

Marie reichte ihm ihre Hand, und indem sie die schönen, in Thränen schwimmenden Augen voll zu ihm aufschlug, erwiderte sie leise: „Aber Du wirst es nicht verlangen, Lothar! Denn nur Dir werde ich bekennen, was ich zu bekennen habe!“

Sekundenlang standen sie schweigend Hand in Hand, noch in tiefster Seele erschüttert von der düsteren Majestät des Todes, dessen mächtiges Flügelrauschen sie über ihrem Haupte vernommen, und doch mit einem schüchtern emporkeimenden, wundersamen Glücksgefühl im Herzen.

Und ob sie dann auch ohne ein lautes Wort des Abschieds voneinander gingen, – sie wußten es doch, daß sie einander nach dieser Stunde nimmermehr würden verlieren können.




In einem Berliner Abendblatte fand sich an ziemlich auffallender Stelle folgende Mittheilung:

„Eine eigenartige Ueberraschung brachte den Besuchern des Schillertheaters die Vorstellung am letzten Sonntag. Die Direktion hatte das erste Auftreten einer sehr interessanten Debütantin angekündigt, einer jungen Dame, deren Name aus Anlaß eines unliebsamen Vorkommnisses auf dem großen Bazar für die Ueberschwemmten neuerdings in der vornehmen Gesellschaft Berlins vielfach genannt worden war. Die Logen und Ränge des Theaters hatten sich denn auch mit einer besonders auserlesenen und eleganten Zuhörerschaft gefüllt, und es ging eine Bewegung nicht geringen Erstaunens durch das Haus, als Herr Direkor Konstantin Rainer um sieben Uhr von der Bühne herab dem Publikum mittheilen mußte, daß ihn Fräulein Marie von Brenckendorf unmittelbar vor Beginn der Vorstellung und ohne Angabe genügender Gründe benachrichtigt habe, es sei ihr unmöglich, ihren Verpflichtungen nachzukommen und die Marianne in den ‚Geschwistern‘ zu spielen. Nur der liebenswürdigen Bereitwilligkeit des Fräulein Hellmund, die Partie noch in letzter Stunde zu übernehmen, habe er es zu danken, daß ihm die Aufführung des Stückes überhaupt möglich sei. – Unsere bewährte jugendliche Naive entledigte sich denn auch mit Glanz ihrer Aufgabe und wurde von dem dankbaren Publikum sowohl für ihre prächtige Leistung als für ihre opferwillige Hilfsbereitschaft mit Beifall überschüttet. In den Zwischenakten gab es im Foyer und in den Logengängen begreiflicherweise allerlei abenteuerliche Vermuthungen und Gerüchte über die Natur der Umstände, durch welche Fräulein v. B. am Auftreten verhindert worden sein könnte. Die Diskretion verbietet uns, Näheres darüber mitzutheilen, aber wir dürfen immerhin als gutverbürgte Neuigkeit verrathen, daß gestern im Hause des bekannten Zahnarztes Brenckendorf, welcher trotz seines bürgerlichen Namens der leibliche Bruder der jungen Dame ist, die Verlobung derselben mit ihrem Vetter, dem Gerichtsassessor v. B., stattgefunden hat. Der glückliche Bräutigam wird sich nun allerdings dazu verstehen müssen, die durch den Vertragsbruch seiner Braut verwirkte bedeutende Geldbuße

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_566.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)