Seite:Die Gartenlaube (1890) 652.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

die beiden Herren hatten sich nach längerem Gespräch von den Stühlen erhoben, aber Warnow zögerte sichtlich noch, irgend einen Entschluß zu fassen.

„Also Sie wollen es durchaus? Durchaus?“ Er hatte die Angewohnheit, das letzte Wort eines Satzes zu wiederholen.

„Ich halte es für meine Pflicht!“ entgegnete Conventius ruhig.

„Pflicht! Jawohl! Aber, mein bester Herr Pfarrer, Sie könnten sich dieselbe wesentlich erleichtern. Erstens: ich könnte Sie begleiten – könnte Sie etwa als einen höheren Regierungsbeamten einführen, der die Vollmacht und auch die Neigung habe, dem Gefangenen, falls er sich willfährig zeige, einige Erleichterungen zukommen zu lassen … zukommen zu lassen –“ .

Reginald machte eine abwehrende Bewegung.

„Nein, bester Herr Direktor, nein! Ich halte diesen Weg, trotz der unzweifelhaft guten Absicht, die Sie leitet, nicht für den richtigen. Bedenken Sie doch nur, ich bitte Sie: ein Geistlicher – ein Diener Gottes, der sich mit Unwahrheiten, gleichviel von welcher Idee dabei geleitet, bei einem Gefangenen einführt!“

„Ja, aber auch bei welchem Gefangenen!“ eiferte der Direktor dazwischen. „Sie müssen die Eigenart dieses Menschen bedenken – Sie müßten ihn kennen, um über ihn urtheilen zu können. Das ist ja kein gewöhnlicher frecher Einbrecher und Mörder – ich sage Ihnen ja, dieser Schönfeld gehört einer gefährlichen Sorte an, er ist mit einer gewissen Bildung überfirnißt, hat viel gelesen, drückt sich gut aus, faßt seine böse That, so widersinnig Ihnen das klingen mag, von einem gewissen idealen Standpunkt auf – als ein Verdienst, das er sich um die Menschheit erworben – Menschheit erworben –“

„Ich weiß dies alles, geehrter Herr Direktor, Sie haben es mir selbst gesagt. Ich erkenne auch mit Dankbarkeit Ihre gute Absicht an, mir meine schwierige Aufgabe erleichtern zu wollen. Aber da Sie sich so eingehend mit der Eigenart dieses Verbrechers beschäftigen, muß ich Sie schon herzlich bitten, auch der meinigen gerecht zu werden! Ich kann auch in dieser Angelegenheit nichts anderes sagen, nichts anderes thun, als dasjenige, was die Richtschnur meines ganzen Lebens ist, was meinem Handeln jederzeit den Stempel aufdrücken soll: die Wahrheit!“

Der Direktor sah den Redenden mitleidig an und seufzte. „Sie werden, denken Sie an mein Wort, in sehr schwere Lagen gerathen, Herr von Conventius, wenn Sie es sich wirklich zum Gesetze machen, immer und überall die Wahrheit zu sprechen.“

„Ich gebe das zu – aber ich bleibe meinem Grundsatz treu: nichts verschweigen, nichts feige beschönigen – die Wahrheit über alles!“

„Es gab eine Zeit, da dachte ich ebenso wie Sie – Sie sind noch jung und muthig … kommen Sie erst zu meinen Jahren, meinen Erfahrungen, da wird sich manches anders gestalten! Aber für jetzt – wollen wir also hinübergehen – also hinübergehen?“

„Wenn ich Sie bitten darf!“

Warnow drückte auf den Knopf der elektrischen Leitung.

„Remmler soll sich bereit halten!“

Die Herren durchschritten ein Vorzimmer und einen Hausflur und betraten den Hof; hier gesellte sich ein kräftiger, untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem ernsten, stillen Gesicht zu ihnen. Er trug einen kurzen, rauhhaarigen Flausrock und hatte einen gewaltigen Schlüsselbund in den Händen.

„Remmler, dies ist unser neuer Herr Pfarrer, Baron von Conventius.“

„Bitte, bitte, Herr Direktor, lassen Sie den Baron beiseite!“

Remmler nahm die Mütze ab, machte eine linkische Verbeugung und warf einen Blick unverhohlener Bewunderung auf den hochgewachsenen blonden Mann an seiner Seite.

„Zu Nummer 58!“ sagte der Direktor.

Der Schließer sonderte rasch einen der Schlüssel aus dem Bunde heraus und schritt den Herren voran quer über den langen Hof nach einem Seitenflügel, zu dem eine Außentreppe führte.

„Auf Wiedersehen, lieber Herr Pfarrer! Ich gehe nun zurück!“ Warnow schüttelte dem Geistlichen die Hand.

„Remmler, Sie bleiben ganz in der Nähe – Herr von Conventius wird ohne Zweifel sehr bald wieder da sein!“

Die beiden stiegen die Stufen vollends hinan und schritten einen langen, halbdunklen Flur, der an jeder Seite dicht mit Thüren besetzt war, hinunter. Wo dieser Flur ein Knie machte, bogen sie rechts ab und Remmler setzte seinen Schlüssel in eine ziemlich niedrige Thür ein, die sich mit einigem Geräusch öffnete; der Schließer ließ den Geistlichen eintreten und blieb in soldatischer Haltung wartend unmittelbar neben der Pforte stehen.

Das Wort „Gefängniß“ hat für den Unbefangenen immer etwas Unheimliches. Man weiß es ganz genau, daß es unterirdische Verließe, in denen die Gefangenen ohne Licht und Luft, mit Ketten belastet, auf verfaultem Stroh liegen, lange schon nicht mehr giebt – aber der Begriff des Düstern, Schauerlichen verknüpft sich unwillkürlich auch heute noch mit dem Wort „Kerker“.

Der Anblick, der sich dem Eintretenden bot, deckte sich nicht im mindesten mit dieser Auffassung.

Das mäßig große Zimmer war weder unfreundlich noch ungesund; eine gewisse kahle Nüchternheit in der Ausstattung ausgenommen, war nichts dagegen einzuwenden. Es erhielt hinreichendes Licht durch ein breites, allerdings recht hoch angebrachtes, stark vergittertes Fenster, die Temperatur darin war weder feucht noch dumpfig, in der Nähe des Fensters stand ein fester, einfacher Tisch mit Schreibgerät und Material zu Flechtarbeiten, eine Strohmatte bedeckte den Fußboden, im Hintergrund befand sich das eiserne Bettgestell und ein Holzstuhl. Von diesem erhob sich beim Eintritt des Fremden ein schlanker, mittelgroßer Mann mit sehr kurzgeschorenem, graugesprenkeltem Haar und Bart und ungewöhnlich tiefliegenden blauen Augen und fragte, mit höflicher Verneigung: „Sie wünschen, mein Herr?“

Ton, Blick und Gebärde, alles entsprach so vollkommen den Anforderungen der „guten Welt“, daß Conventius, trotz der vorbereitenden Rede des Direktors, innerlich stutzig wurde; einen Raubmörder und Einbrecher, der zum Tode verurtheilt war, hatte er sich wahrlich anders vorgestellt!

„Ich wünsche,“ sagte Reginald, dicht an den Gefangenen herantretend und ihm die Hand bietend, „Sie kennenzulernen und ebenso von Ihnen gekannt zu werden. Mein Name ist Conventius, ich bin Geistlicher an der Pfarrkirche zu Sankt Lukas und mit der Seelsorge der hier Wohnhaften betraut!“

Er hatte sich in der Stille auf einen heftigen Zornesausbruch und Widerspruch des Verbrechers gefaßt gemacht; aber nichts derartiges geschah.

Schönfeld nahm die dargereichte Hand nicht und trat einen Schritt zurück. „Hat Ihnen Herr Direktor Warnow nicht gesagt,“ begann er langsam, „daß ich den dringenden Wunsch ausgesprochen habe, mit allem geistlichen Zuspruch verschont zu werden?“

„Ja – er hat es mir gesagt!“

„Nun? Und? – Zwingt Ihr Beruf oder irgend ein Befehl von ‚oben herab‘ – ich meine die weltliche Obrigkeit! – Sie, mir dennoach, gegen meinen Willen, Ihre amtlich beschworenen Heilswahrheiten mitzutheilen? Dann beklage ich Sie!“

„Das ist nicht nothwendig. Mich zwingt nichts und niemand auf der Welt, als mein eigener, freier Wille!“

„So?“ Schönfeld trat wieder einen Schritt zurück und musterte den Geistlichen von Kopf bis zu Fuß. „Dann lassen Sie sich sagen, daß ich, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, auch noch im Besitz meines eigenen, freien Willens und entschlossen bin, denselben bis aufs äußerste geltend zu machen! Man kann mich einsperren, mich quälen, mich tödten … aber keine Macht der Welt soll mich zwingen, solange ich lebe, den sogenannten ‚Trost der Religion‘ in mich aufzunehmen oder auf alles, was mir in diesem Sinn vorgepredigt wird, ein Wort zu erwidern!“

„Das verlangt man auch nicht von Ihnen!“

„Wozu wären Sie denn hierhergekommen?“

„Ich sagte es Ihnen ja schon: vorerst, um Sie kennen zu lernen, um von Ihnen gekannt zu werden! Glauben Sie, mir wäre mein Gott, alles, was meine Seele Theuerstes und Heiligstes kennt, nicht tausendmal zu schade, um es einem Menschen preiszugeben, der es mit Spott und Hohn oder mit Gleichgültigkeit und Mißachtung aufnimmt? Sie sagen, keine Macht der Welt soll Sie zwingen! Das glaube ich Ihnen und spreche das gleiche! Die Macht aber, die Sie zwingen wird, ist nicht von dieser Welt, hat nichts mit ihr zu schaffen und ist doch stärker als alles, was diese Welt hervorzubringen vermag. Das habe ich Ihnen erwidern wollen. Ehe ich jetzt gehe, noch eins! Sie haben dem Direktor angedeutet – wenn auch sehr versteckt! – Sie hätten einen Wunsch … wollen Sie ihn mir nennen?“

„Glauben Sie, mich mit der Erfüllung dieses Wunsches für Ihren Himmel zu ködern?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_652.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)