Seite:Die Gartenlaube (1890) 695.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ich nahm mir kaum Zeit, das Zimmer anzusehen, das der alte Wirth mir durchaus zu zeigen wünschte; ich fragte nach dem Pfarrhaus von St. Martin und wurde in eine Straße gewiesen, die im letzten Abendsonnenschein steil vor mir aufstieg. Ja, da schauten richtig zwei ehrwürdige alte Thürme über die Dächer hinweg, und eben begann das Pfingstgeläute. Die scheuernden, fegenden Mädchen vor den Hausthüren, die jungen Bursche, welche die Maien festnagelten zur Seite der Steinbank, hörten auf mit ihrer Hantierung und horchten einen Augenblick auf die mächtigen Zungen der Glocken; schier betäubend schwirrten in dieser Nähe die Klänge in mein Ohr. Nur die blondköpfigen Kinder lärmten weiter in der Vorfreude des morgenden Festtages. Ich hielt eine der hübschesten kleinen Dirnen am Zopf fest.

„Komm,“ bat ich, „führe mich nach dem Pfarrhause!“ – Das liebe Ding sprang eifrig vor mir her, und in wenigen Minuten hatte ich das der Kirche gegenüberliegende Haus erreicht. Eine hohe dunkelbraune Hausthür mit blitzendem Messingklopfer, die steinernen, fein gemeißelten und mit Figuren aus der biblischen Geschichte geschmückten Einfassungen der Fenster und Thüren, sowie der schiefe Oberstock von Fachwerk, mit dem ebenso schiefen Erkerlein daran, in dessen Gebälk Sprüche und Daten eingegraben waren, ließen das hohe Alter des Hauses erkennen.

Ich trat ein. Ein ungeheurer Flur empfing mich, die Schelle rasselte überlaut durch den Raum, und gleich darauf erschien eine alte Frau; sie trat aus der nach dem Garten zu liegenden Küche.

„Die Frau Pfarrerin ist nach dem Kirchhof gegangen,“ antwortete sie auf meine Frage nach ihrer Herrschaft, „und der Herr Pfarrer studieren im Garten seine Predigt für morgen.“

Da ich den Pfarrer nicht stören wollte, ließ mich die Alte in Elisabeths Zimmer treten. Es wurde mir auf einmal ganz beklommen; machte es der starke Fliederduft, der einer großen Vase voll Blüthen entquoll, ober die leise einbrechende Dämmerung in dem unbekannten Raum, oder die kleinen getragenen Kleidungsstücke, die dicht vor mir auf dem Tische ausgebreitet lagen und einen Geruch ausströmten, wie er lange nicht geöffneten Kleiderspinden eigen ist – ich weiß es nicht. Mir erschienen diese kleinen, entschieden erst kürzlich wieder geordneten Sachen hier ganz grausig; gleichwohl hingen meine Blicke wie gebannt an den Gegenständen; ich vermochte noch deutlich die Flecken auf einem abgeschabten Sammethöschen, das verblichene Blau der Schleife des Säuglingskeides und die zerrissene Kittelschürze mit einem Tintenklecks zu erkennen; daneben Spielzeug: zerbrochene Thierchen, Puppen u. s. w. Dazu der Duft verwelkter Cypressenkränze, vermengt mit jenem der frischen Blumen, denn in dem Puppengeschirr hatte eine Hand, wie Kinder es zu thun pflegen, mit Wiesenblumen „Kochen“ gespielt. Der gelbe feste Stengel der Maßliebchen lag da zierlich als goldgelbe Butter servirt auf einem winzigen Teller, und die weißen Blätter schwammen in der kleinen mit Wasser gefüllten Terrine als Reissuppe.

Mich schauderte es förmlich. Ich ging, unfähig, den Anblick länger zu ertragen, zum Fenster hinüber und öffnete es, indem ich die stille Straße hinabsah, auf der Elisabeth kommen sollte.

Sie muß sehr krank sein, sagte ich mir, sehr krank! Und das Mitleid kam über mich mit erschütternder Gewalt. Ich meinte, die lieben Blondköpfchen aus den Ecken des spukhaften Zimmers auftauchen zu sehen, lächelnd, rosig – und sah dann wieder kleine weiße todtstarre Gesichter unter Blumen hervorlugen, die kein noch so heißes Gebet wieder lächeln machen konnte. Gott hatte mir viel versagt, ich hatte gemurrt und geweint, aber besser – nie ein Kind besitzen, als es trotz allen Betens und Ringens hergeben zu müssen, machtlos der finstern Gewalt gegenüber, ob man gleich das eigene Herzblut opfern möchte, um das süße Leben zu erhalten. Es muß übermenschliches Leid sein! – Ich bekam plötzlich Angstzustände in dieser Umgebung. Schon im Begriff, nach der Küche zu flüchten, sah ich eine schwarze Frauengestalt durch die Dämmerung auf der Straße daherkommen.

Gottlob, es ist Elisabeth!

Sie trat gleich darauf in die Stube; das Mädchen hatte ihr von einer „Fremden“ gesagt.

„Anna?“ klang ihre Stimme. „Ja, ich wußte gleich, Du bist es – aber bitte, komm hinaus, das ist nichts für Dich –. Du, verzeihe nur – Kathrine ahnte nicht –“

Und im Wohnzimmer küßte sie mich, und als sie mein blasses Gesicht sah, da tröstete sie mich mit der alten süßen Stimme.

„Armes liebes Aennchen, das kannst Du ja nicht verstehen, und das drüben ist auch nur für mich da.“ Und noch einmal schlang sie die Arme um meinen Hals und begann zu schluchzen, ward aber ihrer Bewegung sofort Herr.

„Laß uns gar nicht davon sprechen,“ flüsterte sie, und ihre klaren Augen sahen ganz starr aus, „hörst Du, ich bitte Dich; gar nicht davon sprechen, denn das kann ich nicht ertragen.“

Und mit einer Fassung, über die ich erstaunen mußte, ging sie den Pflichten der Hausfrau nach, der ein lieber Gast unverhofft geworden ist; aber sie war doch anders wie sonst, die Bewegungen gewaltsam, das Auge unstät, und bei einer Anrede fuhr sie erschreckt auf.

Im Gartenhause war der Tisch gedeckt; zum ersten Male sah ich Elisabeths Gatten. Es war ein großer, ernster, traurig blickender Mann, an den Schläfen stark ergraut, um den Mund einen milden Zug. Mit seiner Frau ging er so zart und sorgsam um, als sei sie ein Kind. Er danke mir für mein Kommen, aber vermied es vollständig, die Veranlassung desselben zu berühren. Elisabeth redete kaum ein Wort. Ich brachte endlich das Gespräch in Fluß, indem ich von meinen Reisen erzählte, und fand in ihm einen vorzüglichen Kenner Roms; er hatte mehrere Winter als Reisebegleiter zweier Prinzen dort zugebracht.

Wir hatten wohl bis zehn Uhr im Dunkeln gesessen und die wundervolle Kühle der Mainacht genossen, als sich die Stimme der Köchin vom Hause her vernehmen ließ: „Frau Pfarrer!“

Elisabeth erhob sich sofort und ging hinüber. Ich saß allein mit dem Manne, dessen Kopf sich nach der Richtung gewendet hatte, in der seine Frau verschwunden war.

„Sie hat sich sehr verändert, nicht wahr?“ fragte er.

„Ja!“ sagte ich und schluckte an meinen Thränen.

„Es ist hart, was uns getroffen hat,“ fuhr er fort, „aber noch Härteres droht, wenn Elisabeths Zustand so bleibt. Es muß etwas geschehen, das sie aus diesem Zustande völliger Willenslosigkeit aufrüttelt; der Arzt sagte mir, es sei die höchste Zeit. Sie macht ganz unsinnige Geschichten. Ihre Hausfrauenpflichten erfüllt sie zwar still und musterhaft wie immer, aber sie spricht nie mehr ein Wort über ihre verlornen Lieblinge, sie weicht einer gemeinschaftlichen Erinnerung mit mir förmlich aus, und dabei treibt sie einen ganz kindischen Verkehr mit den Andenken an sie. Jetzt, ich weiß es ganz genau, jetzt sitzt sie zwischen all den kleinen Sachen, die den Kindern gehörten, und stachelt ihren Schmerz in gewaltsamer Weise auf. Es ist gerade, als ertappe sie sich auf einer schweren Sünde, wenn sie sich einmal unbewußt hinreißen läßt, dem Leben seinen Zoll zu zahlen. Neulich, zum Beispiel, schleppte ich sie mit in die Kirche, wo ein berühmter Orgelspieler ein Konzert gab auf der schönen alten Bachorgel. Sie liebt Musik; ich sah es ihr an, sie vergaß ihr Leid unter diesen Klängen; etwas von dem weichen süßen Ausdruck, den ich so liebe an ihr, erschien auf dem Gesichte, und dann –“ er stockte. – „Ich hatte nur kurz einmal meinen Blick gewandt,“ fuhr er fort, „da hörte ich mitten in einer wunderschönen Stelle das scharfe Klappen unserer Emporenthür und – sie war verschwunden. Ich eilte ihr nach und fand sie hier, in ihrem Zimmer, das Gesicht in einem Kleidchen ihres Jüngsten geborgen, mit bebenden Gliedern und heißen Thränen sich anklagend, daß sie auch nur einen Augenblick vergessen konnte!“

„Aber,“ fragte ich ergriffen, „wo ist Elisabeths Ergebenheit in den Willen Gottes geblieben?“

Eine Weile schwieg er; „Frau Anna,“ sagte er endlich, „welcher Mensch hat nicht einmal gezweifelt an einem gütigen barmherzigen Gott? Wie viele giebt es, die angesichts solcher Prüfungen imstande sind, zu sprechen: ‚Dein Wille geschehe, Herr, ich murre nicht!‘ Es ist so echt menschlich, daß sie fragt: ‚Warum gabst Du, um wieder zu nehmen?‘ – Haben Sie nicht Aehnliches gefragt, als Sie am Sarge Ihres Mannes standen, der Ihnen in frischer Jugend entrissen wurde?“

„Ja!“ gestand ich ehrlich zu.

„Nun habe ich ihr gesagt, sie sei noch reicher als viele. Sie hat liebe Geschwister; eines von ihnen, ihren jüngsten Bruder, will ich zu Johanni in mein Haus nehmen, er soll das hiesige Gymnasium besuchen. Sie hat viele Freunde in der Stadt, die sie durch ihr liebliches, kindliches Wesen gewann; wir fühlten es so recht in den Schmerzenstagen. Und sie hat doch auch mich,“ setzte er leise hinzu.

Es klang rührend bescheiden, was er zuletzt sagte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_695.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)