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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

hat, von welchem sie mit besonderer Vorliebe und mit wahrem Eifer erzählt. Zunächst gab sie bei Immermann einen Empfehlungsbrief ihres Bruders ab. Immermann stellte sie seinen Gästen nur als Madame Embden aus Hamburg vor, aber im Verlaufe des Gespräches hielt er es nicht länger aus und sagte es allen, daß diese Frau die Schwester Heines sei, und nun war des Jubels kein Ende. In Frankfurt a. M. gab Rothschild ihr zu Ehren eine große Abendgesellschaft. Alle waren schon versammelt, als die mit Spannung Erwartete ankam. Der Diener riß die Thür auf und rief mit Stentorstimme, da er ihren Namen vergessen hatte, in den Saal hinein: „Madame, die Schwester Heines!“ Die interessanteste war aber unstreitig jene Bekanntschaft, welche Charlotte Embden in Göttingen machte. Dort lernte sie den Grafen August v. Platen kennen. Aber vorsichtig umging sie alle Fragen nach ihrer Familie, weil sie glaubte, der Name Heine*[1] würde bei dem Dichter keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Platen war von ihrer Liebenswürdigkeit entzückt und besuchte sie in ihrem Hause. Als er ihr aber beim Abschiede ehrerbietig die Hand küßte, sagte er: „Gnädige Frau, wollen Sie mir eine Frage beantworten? Haben Sie je die Bibel gelesen?“

Frau Charlotte sah ihn erstaunt an und wußte nicht, was sie antworten sollte.

„Kennen Sie, meine Gnädige,“ fuhr der Dichter fort, „die Stelle in der heiligen Schrift: ‚Bin ich der Hüter meines Bruders?‘ Seien Sie meiner höchsten Achtung versichert und genehmigen Sie die aufrichtigsten Wünsche für Ihr Wohl. Mögen die Bäder von Schwalbach Ihnen Genesung bringen.“

Charlotte blieb stumm. Als sie ihrem Bruder diese Scene erzählte, wurde Heine ernstlich böse und sagte zu ihr: „Aber, liebes Lottchen, Du hast doch sonst die Zunge am rechten Fleck, wie konntest Du nur schweigen und nicht die Gelegenheit benutzen, ihm sein Unrecht hernach vorzuhalten?“ Die Fürstin de la Rocca berichtet, daß Heine zum ersten Male damals seiner Schwester böse war, daß sie ihn aber mit liebenswürdiger Hingebung bald zu versöhnen und das schöne geschwisterliche Verhältniß wieder herzustellen wußte.

Auch in Paris bewahrte er der Schwester seine treue Anhänglichkeit. Man kann sich wirklich nichts Liebenswürdigeres denken als den Brief, den er am 13. Februar 1834, nachdem er aus Hamburg die Kunde von der Geburt eines Kindes empfangen hatte, nach Hause schrieb:

„Liebe Mutter, lieber Max und liebes Lottchen!

Vor anderthalb Minuten erhielt ich den lieben Brief, worin mir unsere glückliche Niederkunft gemeldet wird. Ihr hattet mich also getäuscht, indem Ihr mir sagtet, daß wir erst zum Frühjahr in die Wochen kämen.

Mit tiefem Weh sah ich dem Frühling entgegen. Mein Herz ist jetzt so erleichtert, daß ich vor Freuden tanzen möchte. – Ich umarme Dich, liebes Lottchen und ich sehne mich nach nichts in der Welt mehr, als daß ich die alte Gluck’ und Dich, die junge Gluck und Deine kleinen Küchelchen wohl wiedersehe. Schreibe nur gleich, wie Du Dich befindest. Lebt wohl und behaltet freundschaftlich im Andenken Euren ergebenen H. Heine.“

In späteren Briefen beklagt er bitter, daß er ohne Nachricht über das Befinden seiner Schwester sei: „Ein Wochenbett ist doch kein gewöhnlicher Zustand, und da gebührt es sich wohl, daß ich etwas von dem Wohlsein meiner Schwester erfahre. Wenn Ihr mich bei so wichtigen Umständen öfters ohne Brief laßt, kann ich wirklich krank werden. Ich habe mir fest und steif vorgenommen, recht wirklich krank zu werden, um mich an Dir wegen Deines langen Stillschweigens zu rächen.“

Die ganze Liebe zu seiner Schwester bekundet sich aber in den Briefen, welche Frau Charlotte als ein theures Andenken in ihrem Schreibtisch neben ihren eigenen Erinnerungen, die sie sorgfältig aufgezeichnet, mit treuer Fürsorge bewahrt. Es sind etwa 120 Briefe, die meisten an sie selbst gerichtet, voll froher Laune, voll von glücklichem Humor, aber auch voll von bitterem Sarkasmus, voll von tiefer Verstimmung und brennendem Schmerz, je nachdem die Verhältnisse und Lebenslagen waren, in welchen der Dichter sich an seine Schwester gewandt hat. Wie ein Heiligthum thronte die Liebe zu dieser Schwester in seinem Herzen, und keine Verstimmung vermochte sie daraus zu reißen.

Als sich die beiden Geschwister im Jahre 1843 wiedersahen, empfanden sie beide eine tiefe und innige Freude. Bei dieser Gelegenheit machte Charlotte die Bekanntschaft von des Bruders Gattin Mathilde und suchte auch mit dieser, so weit dies bei den verschiedenartigen Charakteren möglich war, ein liebevolles und freundliches Einvernehmen herzustellen. In den trüben Tagen, welche dieser Reise folgten, als der Dichter mit seiner Familie wegen der Pension sich entzweite, war Charlotte eine treue Vermittlerin. Aber es gelang ihr diesmal nicht wie früher so oft, den gewünschten Frieden wieder herzustellen.

Nur noch einmal sah sie ihren Bruder wieder; es war im Winter des Jahres 1855, zwei Monate vor seinem Tode. Der Dichter lag schwer leidend in seiner „Matratzengruft“, da trat Charlotte bei ihm ein. Sie litt wahre Qualen bei dieser Zusammenkunft, es war ihr herzzerbrechend, ihren Bruder, den einst so schönen und lebensfrohen Mann, so abgemagert und hilflos wiederzufinden. Und dennoch hatte die starkgeistige Frau die Kraft, ihm diesen Eindruck zu verbergen. „Sie that alles, um seine Leiden zu erleichtern, sie errieth seine Wünsche, ehe er sie äußerte, sie errieth seine Gedanken, und beide wahlverwandten Seelen verstanden sich, auch ohne zu sprechen. Er fühlte die Nähe seiner Schwester, wenn er auch regungslos und mit geschlossenen Augen dasaß.“ So erzählt Charlottes Tochter, die Fürstin Marie de la Rocca. Und als Charlotte abreisen wollte, bat sie der Bruder, noch einige Zeit zu bleiben. „Charlotte, wir werden uns nicht wieder sehen!“ wiederholte er beständig. Die Schwester versprach, im Frühjahr wieder zu kommen; die Trennung war eine tiefschmerzliche, und als das Frühjahr kam, da deckte die feuchte Erde des Bruders Grab.

Charlotte von Embden ist seit dem Jahre 1866 Witwe und lebt nur noch ausschließlich den Erinnerungen an ihren großen Bruder. Ein liebevoller, vortrefflicher Sohn, Ludwig Freiherr v. Embden, laut testamentarischer Verfügung der Herausgeber des litterarischen Nachlasses von Heine, widmet ihr die zärtlichste Sorge. Und drei glücklich verheiratete Töchter – in Neapel, London und Berlin – schmücken ihren Lebensabend. Noch heute in ihrem neunzigsten Lebensjahre hat sie etwas von der Anmuth ihrer Jugend. Schwebenden Schrittes, rascher als manches junge Mädchen, eilt sie durch die Zimmer. Wenn sie in ihre Erinnerungen sich vertieft, erglänzen ihre Augen in jugendlichem Feuer. Sie kann stundenlang sprechen, ohne sich zu erschöpfen, bis ihr treuer Sohn und wahrhaft hingebungsvoller Pfleger Ludwig sie daran erinnern muß, sich zu schonen. Auch etwas von dem Sarkasmus, von dem scharfen Witz des Bruders ist auf sie übergegangen. In ihren jungen Jahren war das Embdensche Haus ein Mittelpunkt edelster Geselligkeit, wo Karl Gutzkow, Franz Liszt, Ludwig Wihl, Feodor Wehl, K. Töpfer, die Familie Assing, Therese v. Bacharacht oft und gern verkehrten. Charlotte entzückte damals wie heute – an der Schwelle des neunzigsten Lebensjahres – alle Besucher durch ihren regen Geist, der sich für alle Fragen der Litteratur und Politik interessirt, durch ihren Witz und ihre Liebenswürdigkeit. Die Stunden, welche ich im Hause der liebenswürdigen Greisin verlebt habe, werden mir unvergeßlich bleiben. Ihre Erzählungen aus dem Leben Heines sind die beste Biographie des Dichters und charakerisiren sein Leben und Schaffen eindringlicher als die gelehrtesten ästhetischen Biographien, über die Frau Charlotte gelegentlich auch mit einem scharfen Witz sich lustig zu machen versteht. Für mich ist, da ich diese Zeilen schreibe, namentlich eine ihrer Erzählungen von besonderem Interesse, deren Eindruck mir niemals schwinden wird.

Auf meine Frage nach dem „Rabbi von Bacharach“ erzählte mir Frau Charlotte zum ersten Mal, daß das Werk keineswegs, wie die meisten Biographen annehmen, ein Torso gewesen, sondern daß Heine dasselbe wirklich vollendet habe! Der Hamburger Tempelprediger Dr. Gotthold Solomon, dessen Heine wiederholt in seinen Briefen gedenkt, habe den Roman gelesen und ihn als das beste Bild des altjüdischen Ghettolebens mit warmen Worten gepriesen. Bei dem großen Hamburger Brande im Jahre 1842 aber ging diese Novelle wie alle übrigen Schöpfungen aus des Dichters Jugendperiode leider in Flammen auf. Er selbst schrieb darüber an Ludwig von Embden: „– daß meine Manuskripte und Schriften ein Raub der Flammen geworden, ist mir ein unersetzlicher Verlust. Diese Manuskripte enthielten die Produke meiner ersten Jugendkraft, und nie werde ich wieder so


  1. * Heine hatte im dritten Bande seiner „Reisebilder“ auf einige Angriffe Platens in überaus scharfer Weise geantwortet.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_723.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2023)