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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

‚Eine von den Schauspielerinnen, welche die alte Millern gab,‘ antwortet sie mit sonderbarer Stimme.

‚Wie kamst Du zu den Schauspielerinnen?‘

‚Die Alte hatte mich von der Bühne her schon immer angesehen; ich saß mit Mila und ihrem Vater in der Prosceniums-Loge, und im dritten Akt, wie ich so recht hinsehe und Herzklopfen habe vor Angst, was wohl mit dem armen Liebespaar wird, da klinkt hinter mir die Logenthür und eine Stimme ruft leise meinen Namen. Ich stehe vorsichtig auf, um nicht zu stören, weil ich denke, die Ernestine ist’s, die mir sagen will, daß Du kränker geworden bist, oder daß die Eltern gekommen sind – da steht draußen auf dem Gange leibhaftig die alte Millern und sagt, sie müsse mich nach der Vorstellung auf einen Augenblick sprechen, sie wisse, daß ich das Pflegekind sei von dem Pfarrer und sie könnte mir etwas sagen von meiner Mutter; ich sähe ja aus, als sei ich ihr aus dem Gesichte geschnitten. Und da – da haben wir verabredet, Kathrin, daß sie an der Kirche drüben warten soll. Mila und ihr Vater haben mich nach Hause begleitet, und dann habe ich gethan, als ob ich ihnen noch nachschauen wollt’, und bin ganz fix der alten Millern entgegengelaufen, die im Kirchenportal wartete. Sie meinte aber, ich sollte auf eine Stunde mitkommen in ihre Wohnung, und weil ich doch so gern – ach so furchtbar gern von meiner wirklichen Mutter was wissen wollte – da – schilt mich nicht, Kathrin! – da ging ich mit.‘

Ich schelten, Madame! Ich fand ja gar keine Worte vor Schrecken.

‚Die alte Millern,‘ erzählte das Kind weiter, ‚war noch gar nicht so alt, als sie die Schminke abgewaschen hatte. Sie wohnt da beim Kaufmann Meyer an der Ecke, ganz oben; sie hat mich in die Arme genommen und immerfort geküßt und geweint und erzählt, sie sei damals dabei gewesen, als mein Vater – – ach, Kathrin – und eigentlich hatte sie mich zu sich nehmen wollen, denn sie sei Mamas beste Freundin gewesen, aber sie habe nur das Bedenken gehabt, was sie als junges Mädchen mit mir habe machen sollen.‘

Und auf einmal fühle ich, wie sich das Kind vor meinem Bette niederwirft und bitterlich, so mit wahrer Inbrunst zu schluchzen anfängt, wie sie gestern gelacht hatte. Und dazu ich alter Kröpel, der sich nicht rühren kann, und dem die Angst bis an die Kehle sitzt!

‚Kathrin, ist’s denn wahr, ist’s denn wahr?‘

Ja, was sollt’ ich sagen, Madame? Schweigen ist ja auch eine Antwort. Und wie sie’s verstand, da hat auch sie stillgeschwiegen mit ihrem Jammern. Es war so grad die erste fahle Dämmerung des Morgens heraufgekommen und ich habe gesagt: ‚Geh’ zu Bette, mein Kind, morgen spreche ich mit Dir und dann wirst Du ruhiger; und in das Theater sollst Du auch nicht wieder, und wenn die alte Millern sich hierherwagt, dann fliegt sie hinaus, daß sie Schuh und Pantoffeln verliert.‘

Sie ist auch aufgestanden und der Thür zugewankt, ohne ein Wort weiter zu sprechen. Aber hingelegt hat sie sich nicht; sie ist da immer auf- und abgegangen in ihrem Stübchen. Gott sei Dank! habe ich gedacht, daß übermorgen die Herrschaft wiederkommt. Ich will doch heute morgen noch die Ernestine zur Frau Diakonus schicken, sie soll das Kind hinüber bitten, das arme Kind! – Wenn der Herr Pfarrer wüßte, daß sie in der Stube einer ‚Millern‘ gesessen hat –!

Ja, wie der andere Tag anbricht und der liebe Herrgott den Schaden besieht, kommt ein Brief von der Frau Pfarrerin: ihr Mann ist krank geworden in Bonn, und sie muß dableiben, um das Gesundwerden abzuwarten, denn sie kann ihn nicht verlassen; Martha solle nur ja recht fleißig schreiben, ob sie wohl ist, und der kranke Vater habe so große Sehnsucht nach seinem Liebling. – Martha sieht so merkwürdig aus, als sie den Brief vorgelesen hat, daß ich mich wundere; so gar nicht, als ob es ihr leid thut. Sie hat da mit den Schwarzaugen wie träumend durch das Fenster geschaut, dem sie gegenüber saß, und nichts geredet.

Madame, es war ja so leicht für das Kind, mich zu betrügen; ich lag hilflos im Bette, und die Ernestine, dieser Durchgänger, für die war’s ja nur so recht nach dem Gusto, das Kind noch zu bestärken in dem, was es that, vielleicht thun mußte. Sehen Sie, Madame, ich habe zwar seit meinem achtzehnten Jahre in Pfarrhäusern gedient, aber das habe ich doch trotz allem Predigen immer gesagt, der Mensch thut, was er muß, aber nicht, was er will; der eine wird regiert von einem Engel, wie die Frau Pfarrerin, und der andere, den hetzt der Leibhaftige. Und die, bei denen schon Vater und Mutter und Großeltern und Elterneltern immer nur was mit Engeln zu thun gehabt haben, denen wird’s nicht schwer, eben hübsch in der Mitte weiter zu gehen; aber so ein Kind wie unseres, wo alle Sünden schon zur Kindtaufe eingeladen sind, das hätte müssen Riesenkräfte haben, um auf dem Mittelweg zu bleiben; und sie war ein schwaches junges Menschenkind. Ja, ja, Madame, so sag’ ich, denn Art läßt nicht von Art.“

„Aber, Kathrin!“ unterbrach ich ihre Philosophie.

„So ist’s! Und kurz und gut, Madame, der Leibhaftige hat ihr den Strick um den Hals geworfen, wie ich vorhin sagte, und das Schauspielerblut in ihr, das ist rebellisch geworden. Sie ist heimlich alle Abend in das Theater gerannt, die Billette hat sie von der alten Millern – sie hieß eigentlich Fräulein Fuchs – bekommen, und wie wir dann nachher gehört haben, ist sie nicht im Zuschauerraum gewesen, sondern immer hinter die Coulissen geschlüpft. Ich habe recht oft gehört, wie sie am Tage so vor sich hinflüsterte, und einmal habe ich sie ganz laut etwas sprechen hören unter meinem Fenster, als sie Birnen auflesen sollte, und habe mich ein wenig hochgerappelt im Bette und sehe sie da stehen unter dem Baume mit ausgebreiteten Armen; die schönen Bergamotten sind ihr aus dem Schürzchen gefallen, und ganz laut ruft sie: ‚Ich bin gefangen, ich bin in Banden!‘ und dann noch so Aehnliches von einem Fischer und einem Nachen. der sie hätte retten können. – Ich hab’ wirklich gemeint, sie sei übergeschnappt. Wär’ ich nur nicht so elendig gewesen, ich hätt’s doch wenigstens hinhalten können, bis die Eltern kamen – aber so –.

Einmal hat’s im ganzen Hause gerochen, wie wenn’s Festtag wär’; das Kind hat mir auch Waffeln gebracht zum Kaffee und hat gemeint, es sei doch gewiß nicht schlimm, sie habe gerade solchen Appetit darauf gehabt. Eine Stunde später ist’s mir gewesen wie Tassenklappern und Sprechen im Hause, aber Ernestine hat ganz frech gesagt, es seien nur ein paar Freundinnen vom Fräulein da. Ich mußte es glauben. – Zum Unglück ist zu der Zeit auch noch der Klapperstorch zu Diakonussens aufs Dach geflogen und die haben sich nicht um Martha mehr bekümmern können; so ist denn alles ganz kommod und ohne Störung vor sich gegangen. – Ich freue mich noch eines Tages, als ich das Wochenblatt lese, daß die Schauspieler sich mit einem Gedicht verabschieden, und denke, na, das eine Mal wird’s ja nichts geschadet haben, und es ist gut, daß die alte freche Millern fortkommt. Daß sie mit dem Kinde jeden Abend beisammen gesessen haben, daß sogar der erste Liebhaber, wie sie so einen nennen, in unseres Herrn Pfarrers Studierstube, die seit Menschenalter kein unfrommes Wort gehört hat, mit dem Kinde Komödienstücke eingeübt hat – du liebe Zeit, davon ließ ich mir ja nichts träumen auf meinem Krankenbette!

Tags vorher, ehe die Bande abzieht, kommt ein Brief aus Bonn, der die Heimkehr der Herrschaft auf übermorgen anzeigt. Hab’ ich da aufgeathmet! –

Es war nun schon Oktober, und ich habe der Ernestine gesagt, sie solle Tannenzweige aus dem Walde holen zu Guirlanden und das Kind solle Sandtorte rühren, das ist dem Herrn Pfarrer sein Lieblingskuchen. ‚Ja, ja!‘ hat’s geheißen von allen Seiten; und gegen Abend ist das Kind in meine Stube gekommen, der Mond hat durchs Fenster geschaut und ich hab’ sie ganz deutlich sehen können, ihr liebes weißes Gesichtel und die goldschimmernden Zöpfe und die großen Augen.

‚Komm her, mein Schäfchen,‘ hab’ ich gebeten, ‚setze Dich zu mir! Gelt, Du freust Dich auf die Eltern, sehr freust Du Dich?‘

Sie hat sich auch hingesetzt auf mein Bett, wieder mit dem Gesicht nach dem Fenster, aber gesagt hat sie kein Wort.

‚Marthekind,‘ necke ich sie, ‚Du bist so anders als sonst. – Hast etwa einen, dem Du gut bist? Gelt, das wird fein, wenn hier mal Hochzeit gehalten wird in der alten Pfarre; ’s wird auch kommen, wie der heutige Tag gekommen ist.‘

Da hat sie scharf aufgelacht: ‚Mich wird auch einer wollen, das Schauspielerkind, dessen Vater im Zuchthaus gesessen hat!‘

‚Ei der Tausend, Martha, spukt Dir das noch immer im Kopfe? Hat Dir der liebe Gott nicht die besten Eltern von der Welt gegeben?‘

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_730.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)