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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Die Leute sind gar nicht gewohnt, den sonst so milden Prediger von Strafen reden zu hören; man sieht es ihren Gesichtern an. Als er nun im zweiten Theil der Rede von dem Frieden spricht, der heute ausgegossen werde über alles Volk, da redet er matt; es ist, als ob ihm die Kräfte erlahmt wären.

Ich gehe traurig zurück nach meinem Gasthofe. Es regnet noch; ich kann mich kaum durch all die Wagen durchwinden, die auf dem Platze vor dem Hause stehen. Die Gaststube ist vollgepfropft von Leuten, mein Zimmer oben noch nicht aufgeräumt; das Stubenmädchen entschuldigt sich mit den vielen Gästen, die alle des Theaters wegen gekommen sind.

„Das macht das schlechte Wetter, Madame, und dann, weil das Fräulein spielt!“

„Schicken Sie mir Fräulein von Korinska.“

„Die ist in der Probe; sobald sie kommt, will ich’s bestellen.“

Kurz vor zwölf Uhr tritt Martha bei mir ein; ich kenne sie kaum wieder. In der hellen Morgenbeleuchtung sieht sie förmlich alt aus, die Augen sind matt, von dunklen Ringen umgeben.

Ich frage sie gütig, ob sie mit mir essen will, denn sie dauert mich. Sie setzt sich zu mir, ißt aber nicht und trink nur zwei Gläser Wein, worauf ein dunkles Roth ihre Wangen färbt. Ihre Toilette ist wie gestern unordentlich; ich habe aber heute nicht das Herz, sie zu tadeln.

Der Direktor hat mir auf mein Verlangen die kleine Prosceniumsloge vorbehalten. Ich sage es Martha; sie wechselt die Farbe. „Ich glaube, ich kann heute nicht spielen wie sonst,“ ist ihre Antwort. – Ich spreche von meinem Plan, daß ich sie ausbilden lassen will; sie sieht mich dankbar an, erwidert aber nichts.

Vor den Fenstern erhebt sich jetzt ein riesiges Halloh! Ein Leiterwagen voll Studenten ist vorgefahren, sie scheinen bereits ein wenig angetrunken und verlangen einen „Saal“ für sich zum Essen. Wirth und Kellner stehen mitten zwischen den verregneten Burschen. Unter Lachen und Lärmen geht die Gesellschaft endlich ins Haus.

Der Kellner erscheint bald darauf, bittet mich um Entschuldigung und wendet sich dann lächelnd zu Martha: „Die Herren Studenten haben sich erlaubt, die sämmtlichen Mitglieder der Theatertruppe zum Essen zu laden, Fräulein.“

Sie wird ganz blaß. „Ich danke, ich habe bereits gespeist,“ antwortet sie, und ihre Augen funkeln schier verächtlich.

„Aber sie haben mir gedroht, sie wollten mich aufhängen, wenn ich das Fräulein nicht zur Stelle brächte,“ sagt er, und vertraulich lächelnd fügt er hinzu: „Auch Herr Raimund läßt sagen, er hoffe, das Fräulein werde theilnehmen.“

Sie sieht ihn zornig an und zeigt nach der Thür. Als er hinaus ist, wendet sie sich von mir und geht zum Fenster.

„Wer ist Herr Raimund?“ frage ich.

„Der ‚Liebhaber‘ unserer Truppe,“ klingt es gedämpft.

„Hat er ein Recht, Dir dergleichen sagen zu lassen?“ forsche ich unbarmherzig.

„Nein!“ sagt sie kurz, und dabei hält sie ihre Stirne gegen die feuchtkalte Scheibe gepreßt.

Wie sie sich endlich umwendet, klagt sie über Schwäche, sie wolle sich noch ein wenig ausruhen, habe auch an dem Kostüm noch etwas zu nähen; die alte Fuchs verstehe das nicht und sei auch schwerlich nach dem Essen noch imstande dazu. Sie geht, indem sie mir die Hand küßt, und ich sage:

„Kind, habe Muth!“

In demselben Augenblick, als sie auf den Flur tritt, schrillt eine Frauenstimme: „’s ist wohl unheilig, zu Pfingsten fidel zu sein? Immer apart, immer prüde, wirst ja sehen, was dabei herauskommt! Raimund ist nicht schlecht ärgerlich auf Dich. Spanne die Saiten nicht zu straff bei dem – sie könnten reißen! Du bist nichts anderes als wir alle!“

„Oll Kathrin,“ denke ich, „diesmal stimmt Deine Philosophie nicht; hier reißen sich Engel und Dämonen um ein armes Menschenherz.“

Nachmittags schreibt mir der Oberpfarrer ab; es sei der Diakonus plötzlich erkrankt und folglich er so mit Dienstgeschäften überbürdet, daß er sein Versprechen nicht halten könne. Ob es mir abends passe?

Ich antworte „Nein, aber morgen zu jeder Stunde.“

Der Abend kommt endlich heran. Ich gehe, da der Weg weit ist, schon um dreiviertel auf sechs Uhr fort. In dem Park, unter den tröpfelnden Bäumen – der Regen hat aufgehört – ist es ungemein belebt, alles strebt dem Theaterchen zu. Neben mir rauscht der kleine Fluß; er hat heute lehmfarbenes Wasser und ist bis zum Uferrand gestiegen; unheimlich rasch schießen die straffen Wellen dahin, man kann ordentlich schwindlig werden, wenn man hineinsieht. Ein paar Studenten mit weinseligen Gesichtern stürmen an mir vorüber; ich höre, wie der eine sagt: „Donnerwetter, sieh die Menschheit! Der Musentempel ist für heute entschieden zu klein – es giebt einen Höllenradau!“

Von meiner Loge aus, die ich hinter mir abschließe – ich habe das Recht dazu für eine ganz nette Summe vom Direktor erkauft – sehe ich, daß allerdings das Haus bereits gefüllt ist bis auf das letzte Plätzchen, und der Gedanke befällt mich, ob der Rang – es giebt nur einen – und die Galerie nicht zusammenbrechen und den Unglücklichen im Parterre die Köpfe zerschmettern werden. Es ist ja so baufällig, das kleine Theater, vor Jahren schon sollte es abgerissen werden. Ueberall lachende Gesichter, neugierige Mienen, nur in der Mitte des Ranges gähnt die Leere der sogenannten herrschaftlichen Loge, deren Vorhänge von gänzlich verblichenem rothen Sammet durch die Fürstenkrone zusammengehalten werden. Sonst alles voll, und immer mehr Leute wollen herein; man hört scheltende Stimmen. Im Orchester, mitten zwischen den Musikanten, die sich kaum zu rühren vermögen, sitzen die angeheiterten Studenten. Die meisten Blicke sind nach oben gewandt, wo die Honoratioren von Borndorf Platz gefunden haben; stattliche wohlbeleibte Frauen, deren Mienen schon jetzt Geringschätzung und Empörung bedeuten; junge hübsche Mädchen mit ängstlich neugierigem oder vergnügtem Ausdruck und im Hintergrunde die Herren, bewaffnet mit Operngläsern.

Endlich schlägt eine Glocke an, die Musikanten spielen auf Blasinstrumenten als Ouverture ein Motiv aus dem „Fliegenden Holländer“, daß man meint, die Ohren müßten zerspringen, dann steigt der Vorhang empor und Fausts Studierzimmer zeigt sich dem Blick. Ob Faust – ich erkenne den jungen Schauspieler, der mir gestern auf der Treppe begegnet ist und der auf dem Zettel als Herr Raimund steht – seine Sache gut macht, kann ich nicht sagen, ich habe nur einen Gedanken: Martha. Der Herr Direktor ist ein Mephisto, wie man ihn sich nicht besser denken kann. Die Worte rauschen an meinem Ohr vorüber wie der Fluß da draußen. Einmal während einer Pause meine ich sogar dieses Rauschen wirklich zu hören, und es ist auch so, ich besinne mich, daß sich gar nicht weit von hier die Wellen über ein Wehr stürzen.

Es ist allmählich drückend heiß hier innen geworden; ein paar Petroleumlampen am Kronleuchter sind zu hoch geschraubt, der Qualm benimmt fast den Athem.

Endlich eine Pause – oder schon die zweite? Die Kapelle spielt den Faustwalzer als Einleitung. Mir ist plötzlich, als packte mich etwas an der Kehle; ich vermag nicht hinzusehen auf die Bühne. Dann klingen wohlbekannte Worte an mein Ohr:

„Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen –“

Ich sehe nun doch hin; da steht sie und schaut mit seitwärts gebogenem Köpfchen Faust an. Nie in meinem Leben habe ich ein holdseligeres Gretchen gesehen; so ist selten der Charakter der Unschuld in Haltung und Aussehen verkörpert worden. Aber ihre Antwort klingt nicht schnippisch und abweisend, sie spricht die Worte völlig klanglos, sie geht auch nicht mit raschen elastischen Schritten, wie das beleidigte Mädchen geht. Langsam, als könne sie den Fuß nicht heben, schwankt sie über die Bühne, die Schleppe ihres himmelblauen Kleides mit den rothbraunen Sammetstreifen am Rande schleift langsam hinterdrein. Ich sehe die schlanke Gestalt mit den köstlichen blonden Flechten wie im Traum, es dünkt mich eine Ewigkeit, bis sie verschwunden ist. Ueberall flüstert’s und aus dem Kreise der Studenten wird sogar ein vereinzeltes „Ausgezeichnet!“ laut.

Ich kann kaum noch athmen. Um Gotteswillen, was soll das werden! Ist es die Scham, die sie so lähmt, ist sie krank? – Es kommt die Scene, wie sie vor dem Spiegelein stehend ihre Zöpfe flicht; wieder klingt es wie von einer sprechenden Puppe, wieder diese automatenhafte Bewegung. Jetzt aber scheint sie überwunden zu haben; geradezu bezaubernd ist sie, als sie den Schmuck findet und sich vor dem Spiegel putzt. Auf einmal fliegt ein Blick in meine Loge – mitten im Satz bricht sie ab – es ist, als wollte sie sich festhalten, so greifen ihre Hände zurück.

„Das ist wohl alles …“ wiederholt sie.

„Schön und gut!“ schreit der Souffleur, daß es das ganze Theater hört, und sie spricht weiter.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_766.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)