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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

besuchte, einen so traurigen Ausdruck in ihren Augen, eine so trübe Stimmung in ihrem Gemüth, daß es ihn in seinem guten Herzen bekümmerte und er sich zu seinem Vetter Reginald darüber aussprach.

„Siehst Du, Regi, sie dauert mich mehr, als ich es sagen kann, und ich gäbe wer weiß was drum, ihr zu helfen. Da sitzt nun das arme Geschöpf und sehnt sich nach der Schwester und hat, außer Lamprechts, die zwar bieder, aber doch nur mit Bildung schwach behaftet sind, keine menschliche Seele, die sich seiner annimmt. Das Mäuschen und ich haben den besten Willen, aber weiß der Kuckuck, ’s will sich gar nicht recht thun! Dabei ist sie wirklich eine bedeutende und herzensgute Person, die Thekla!“

Darauf hatte Reginald ihn mit seinen schönen, ernsten Augen angesehen und gefragt: „Was meinst Du, Fritz – ob ich einmal zu ihr hingehen könnte?“

Der Ulan hatte den Vetter darauf feurig umarmt und gerufen: „Ja – dreimal ja, Du Prachtkerl!“

Und Reginald war hingegangen. –

Von jenem Tage schrieb sich die Freundschaft der beiden. Sie verstanden einander in der That wunderbar, der gläubige Diener Gottes und der Freigeist. Das rein menschliche Element war es, was hier den Sieg behielt – und dann vereinte sie beide ein Gefühl, das stärkste, das jedes von ihnen hatte! Es dauerte nicht lange, da wußte es Thekla, ohne daß Reginald es ihr in klaren Worten gesagt hatte, daß er Annie nach wie vor mehr liebe als alles in der Welt – und er fühlte es heraus, gleichfalls ohne daß sie es ihm eingestand, daß sie ihm ihr Kind am liebsten gegönnt hätte. Das war die Brücke, auf der sie sich trafen, das war der Hintergrund aller ihrer Gespräche: Annie! Thekla las ihm aus Annies Briefen vor, sie berichtete von ihrer Stimmung während des Herbstes und Winters, sie theilte ihm die Beobachtungen mit, die sie während Annies kurzer Brautzeit gemacht hatte – nichts verschwieg sie ihm … und wiederum war Thekla der einzige Mensch, dem Reginald das Geständniß machte, er wisse um die Ursache von Delmonts verstörtem Wesen und um die innere Gewalt, die ihn gezwungen habe, sein Verlöbniß zu lösen, wenn er auch nie den Schleier dieses Geheimnisses lüften dürfe.

Thekla rechnete sich mit ihrem scharfen Geist etwas heraus, was der Wahrheit ziemlich nahe kam; sie hütete sich aber, mit Fragen oder Anspielungen in Conventius zu dringen; dazu war er ihr zu werth, hielt sie ihn zu hoch.

Die Nachricht von Delmonts Tod, die durch alle namhaften Zeitungen ging, hatte selbstverständlich auch ihren Weg nach F. gefunden – aber die beiden Freunde hatten nur die Thatsache erwähnt und alles weitere unberührt gelassen. Auch Annie hatte ihrer Schwester kein Wort von ihrem Empfinden geschrieben, nur den Wunsch ausgesprochen, bald heimzukehren, da sie sich nach Thekla sehne.

Heute war der fünfzehnte August, auf den folgenden Tag erwartete man Annies Heimkehr.

Reginald hatte mit Lamprechts Hilfe Theklas Rollstuhl in den Garten gebracht, und hier saß sie nun mitten im Grünen, von Schmetterlingen umspielt, von Bienen umsummt, und sprach ihre Ansichten über alte und neue Freundschaften aus.

„Unser Verkehr wird mir recht fehlen!“ schloß sie seufzend.

„Mir auch, liebe Freundin!“

„Aber ich sehe nicht ein – bestehen Sie wirklich in allem Ernst darauf, sich nie mehr bei mir sehen zu lassen, sobald Annie hier ist?“

„In allem Ernst – und mit Recht! Mein Erscheinen hätte für Ihre Schwester nur eine Bedeutung, nämlich die, ich wolle mich aufs neue um sie bewerben! Und dazu wäre wahrlich der Zeitpunkt jetzt schlecht gewählt!“

Thekla nickte ihm zu und hielt ihm ihre Hand hin.

„Es ist das Richtige so! Aber Sie haben mich sehr verwöhnt – ich werde schwer ohne Sie fertig werden!“

„Sie bekommen ja den schönsten Ersatz – nein, das nicht! Ersatz im vollsten Sinne des Wortes giebt es ja nicht, darüber sind wir beide einig! Aber es ist ja mehr als das! Ihr Liebstes kehrt Ihnen zurück – und ich – ich darf Ihnen manchmal schreiben – ja? –“

„Gewiß! Und ich werde Ihnen manchmal antworten. Welch ein kläglicher Ersatz – da ist das Wort schon wieder! Nun, wer kommt denn da?“

Durch den Gartensaal eilte es auf leichten Füßen, kam durch die offenstehende Glasthür, die Stufen herab – eine leichte, schlanke Gestalt, den Schleier zurückgeworfen, die Augen voller Thränen.

„Thea! Liebste! Wieder bei Dir!“ –

Reginald war emporgesprungen, peinlichste Ueberraschung in den Mienen. Heute schon! Er griff verwirrt nach seinem Hut, wollte sich unbemerkt zurückziehen –

Da richtete Annie sich auf aus Theklas Armen, bleich und verweint, und hielt ihm die Hand hin.

„Herr von Conventius! Wie danke ich Ihnen Ihre Freundschaft für meine Schwester!“

„Die findet ihren Dank in sich!“ gab er zurück. Er hatte sich rasch gefaßt, streifte die schöne Hand flüchtig mit den Lippen und wandte sich zum Gehen. „Verzeihen Sie mein Hiersein, Fräulein Gerold, Ihre Schwester erwartete Sie erst morgen!“

„Ich hatte zu große Sehnsucht ich hielt den Rasttag in München nicht aus, wie ich mir’s vorgenommen hatte, sondern reiste geradeswegs hierher. Ach – daheim – wieder daheim!“

Sie sah sich in dem sonnigen, grünen Garten um und drückte Theklas Haupt an ihre Brust.

„Mir will scheinen, Du siehst wohler aus, als da ich Dich verließ!“

Thekla blickte auf Conventius.

„Ich habe einen sehr geduldigen guten Freund und Tröster gefunden!“ entgegnete sie; und leiser setzte sie hinzu: „Sieh, nun will er gehen – und nicht mehr wiederkommen. Willst Du ihn nicht bitten, Annie, daß er es dennoch thut?“

Ein leises Erröthen stieg in Annies Gesicht, aber sie wandte sich, ohne zu zögern, zu ihm und sagte: „Ich bitte – kommen Sie wieder!“ – – –

Er kam – zuerst sehr selten nur und als Theklas offizieller Freund – dann häufiger – auch als Annies Freund, ihr Berather und Helfer im Wohlthun. – Aber mit einundzwanzig Jahren kann man nicht nur selbstlos in andern aufgehen – und die Stürme, die um diese gesegnete Zeit daherbrausen, die beugen ein Menschenkind wohl schwer danieder, aber sie knicken und vernichten es nicht ganz. – Und der Thau kommt und der Regen – und dann fängt es an, lind zu wehen, und die Sonne bricht durch! –

Ein wenig stiller, ein wenig ernster, aber unendlich liebreizend und in tiefster Seele dankbar war Annie Gerold in ihrem zweiten bräutlichen Glück.

Und als sie dann das grenzenlose Entzücken Reginalds sah, seine anbetende Liebe, die kein anderes Ziel, keinen weiteren Zweck kannte als ihr Glück … wie sollte sie da nicht aufblühen, schöner und holdseliger denn je? Es kam die Zeit, da war sie wieder das heitere, glückselige Vögelchen früherer Zeiten, verwöhnt, geliebt, bewundert von allen, und doch ihres Vaters Wort zur Wahrheit machend: „Verwöhnt es immerhin! Das schadet dem Kinde nichts! Es braucht viel Liebe, und es giebt ja auch aus seinem reichen, goldenen Herzen unaufhörlich, ohne zu rechnen!“ –

Das Haus Gerold schwamm im Glück, und nur Thekla fand des Streites kein Ende mit Fritz von Conventius, der da behauptete, er freue sich doch am meisten über dies Paar und seines Regi Glück – mehr noch als Thekla! Was wollte sie denn? Auf seines Stammhalters Taufe hatten die beiden sich ja miteinander verlobt – das mußte ihn doch wohl am meisten freuen, ihn, den Gastgeber, Vater, Freund und Vetter, der nun endlich der schönen Annie den lange vorher begehrten Verwandtschaftskuß auf die Lippen drücken durfte! –

Karl Delmont ist nicht vergessen – Annie bewahrt sein Andenken wie seine Bilder in treuem Herzen, und Reginald, der glückliche, dankbare Reginald, bewahrt sein Geheimniß – sein schönes, geliebtes Weib soll es nie erfahren, warum er am Tag der Sonnenwende so nachdenklich gestimmt ist, und wer in dem versteckten Grabe schlummert, auf welches ihr Gatte jedesmal zur Zeit der Sonnenwende einen Kranz niederlegt.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_882.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)