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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Erinnerungen an Schliemann.

Von Rudolf Virchow.


I.

Die nachstehenden Erinnerungen an Schliemann waren schon geplant, als er noch am Leben war. Als ich ihm den Wunsch des Herausgebers dieser Blätter mittheilte, empfing ich umgehend die Aufforderung, den Plan zu verwirklichen. Jetzt, wo schon das Grab die entseelte Hülle birgt, wo noch alle meine Gedanken von dem schweren Verlust erfüllt sind, den wir erlitten haben, jetzt möge man mir verzeihen, wenn ich zunächst von den Vorgängen spreche, welche seinen Tod herbeigeführt haben.

Es war im letzten Frühjahr auf einer Reise durch den Ida, die wir zusammen während der griechischen Osterwoche unternahmen, daß eine Schwerhörigkeit, welche sich schon seit Jahren bemerkbar gemacht hatte, ziemlich schnell und fast zur Taubheit sich steigerte. Schliemann erzählte mir, daß er sich schon im Jahre 1864 während einer Reise um die Welt in Java einer schweren Operation auf dem einen Ohre unterzogen habe. Seit dieser Zeit war er niemals ganz frei von leichteren Störungen gewesen und auch schon vor unserem Aufbruche zum Ida war eine nicht unerhebliche Zunahme der Schwerhörigkeit eingetreten. Indeß machte er daraus keinen Gegenstand der Klage. Am 13. April erstiegen wir den einen Gipfel des Ida, den Sarikis (1800 m). Wir waren bei einer Lufttemperatur von 17,5° C. am Fuße des Berges angelangt, trafen aber oben einen gewaltigen Sturm aus Südwest, der eine Erniedrigung der Temperatur auf 5,5° C. und zuweilen etwas Regen mit sich brachte. Die Gewalt des Sturmes war so stark, daß wir nicht aufrecht stehen konnten und daß die Regentropfen, die uns in das Gesicht geschleudert wurden, wie kleine Steine wirkten. Halb erstarrt traten wir den Rückweg an. Spät abends langten wir wieder in unserem Nachtquartier, Evjiler, an. Am nächsten Tage ritten wir über den östlichen Paß, um die Südseite des Gebirges zu besuchen. Unser Führer brachte uns auf einen schmalen Saumpfad, der hoch über der Thalsohle längs eines schroff abfallenden Hanges hinführte. Unsere Karawane, die 6 Berittene und 2 Packpferde zählte, zog sich in einer langen Linie am Gebirge fort. Hier war es, wo die Schwerhörigkeit Schliemanns sich zum ersten Male zu einer solchen Höhe steigerte, daß es mir fast unmöglich wurde, mich ihm durch Zuruf verständlich zu machen. Er begann dann auch, über Schmerzen im Ohr zu klagen. Ziemlich spät abends kamen wir in Zeitünlü an. Am nächsten Morgen untersuchte ich sein Ohr und fand eine so starke Anschwellung, daß der Gehörgang vollkommen verschlossen erschien. Leider hatte ich mein chirurgisches Besteck nicht bei mir, so daß eine genauere Untersuchung nicht möglich war; wir begnügten uns daher mit einer Reinigung des Gehörganges und warmen Einspritzungen, die in der That Linderung brachten. Erst am 18. April trafen wir wieder in Hissarlik ein. Hier ergab sich, daß die Anschwellung ihrer Hauptsache nach aus einer knochenharten Auftreibung bestand, und daß auch in dem andern Ohr, wo noch eine Narbe von der früheren Operation erkennbar war, eine ähnliche Auftreibung saß.

Es konnte kein Zweifel darüber sein, daß es sich um wirkliche Knochenauftreibungen, sogenannte Exostosen, handelte. Zufälligerweise habe ich die Exostosen des äußeren Gehörganges früher einmal in einer besonderen Abhandlung, die in den Sitzungsberichten unserer Akademie der Wissenschaften erschienen ist, ausführlich behandelt, und zwar bei Gelegenheit einer Beobachtung über die Schädel der alten Peruaner. Während Exostosen dieser Art in Europa seltene Vorkommnisse sind, fanden sie sich bei der altperuanischen Bevölkerung in einer auffälligen Häufigkeit, so daß man sogar die Frage aufgeworfen hat, ob eine aristokratische Klasse, die von den Spanieut den Namen Orejones erhalten hat, nicht etwa die bevorzugten Träger dieser Anomalie geliefert habe. Ich habe damals nachzuweisen gesucht, daß diese Art der Exostosen eine besondere Entwickelungskrankheit darstelle, vergleichbar gewissen Exostosen der langen Knochen der Extremitäten, welche genauer bekannt sind, und daß sie in ihren Anfängen bis auf frühe Zeiten des Lebens zurückreichen. Der besondere Sitz der Exostosen im Ohr Schliemanns, ihr symmetrisches Vorkommen auf beiden Seiten, das nachgewiesene Vorhandensein wenigstens der einen im Jahre 1864 ließen nach meiner Meinung keinen Zweifel darüber, daß es sich auch bei ihm um einen alten Zustand handelte, der nur dadurch verschlimmert war, daß sich ein neuer Katarrh hinzugesellt hatte, dessen Absonderung den sonst noch wegsamen Theil des Kanals verlegt hatte. Ich konnte Schliemann nicht verhehlen, daß eine Beseitigung der Exostosen nur auf dem Wege einer schweren Operation möglich sei; ich rieth daher, unter Anwendung geeigneter Mittel das Zurückgehen des Katarrhs abzuwarten und sich der Operation nur im Nothfalle zu unterwerfen.

Nach meiner Abreise am 21. April trat die Ungeduld des damals ganz einsamen Forschers in ihr Recht. Er war gewohnt, sobald er die Umstände überlegt hatte, einen schnellen Entschluß zu fassen und ihn unweigerlich durchzuführen. Selbst in kleinen Dingen war er im höchsten Maße ungeduldig, was freilich nicht hinderte, daß er, wo es nöthig war, in großen Dingen die äußerste Geduld entwickelte. Die festgesetzte Zeit der Ruhepause, des Essens, der Arbeit mußte auf die Minute pünktlich eingehalten werden. Irgend eine Frage, die ihn beschäftigte, mußte so schnell als möglich zur Beantwortung gebracht werden; auf einen Brief erwartete er umgehend Antwort. So geschah es auch diesmal. Ich war kaum in Konstantinopel angekommen, so berichtete er auch schon wieder über die Fortdauer der Schwerhörigkeit und verlangte den Nachweis eines Ohrenarztes. Eben war ich in Berlin zurück, so kam auch schon die Meldung, daß er in Konstantinopel gewesen sei und daß der Ohrenarzt sich zur Vornahme der Operation bereit erklärt habe. Meine Warnung hatte aber doch die Wirkung gehabt, daß Schliemann vorläufig die Operation vertagte. Dafür verlangte er aber den Namen des besten Ohrenarztes in Deutschland.

Er hielt dann noch in der Troas aus bis zum Schlusse seiner Ausgrabungen im Anfange des August und weilte darauf in Athen bis zum November, wo er nach langer Trennung Frau und Kinder wiedersah. Dann aber hielt es ihn nicht länger. Schon unter dem 12. November schrieb er mir von Halle: „Hoch lebe Asklepios![1] Die Operation erklärt Professor Schwartze für ausführbar und will sie morgen früh gleichzeitig auf beiden Ohren vornehmen.“ So geschah es denn auch, und als er am 13. Dezember abends in Berlin eintraf, brachte er mir zwei Schachteln mit den bekannten elfenbeinartigen Knochenmassen mit, die aus seinen Gehörgängen ausgemeißelt waren.

Wie ein Held hatte er sich der schweren Operation, für welche es nothwendig geworden war, die eine Ohrmuschel ganz abzutrennen, unterworfen. Er litt danach an so heftigen Schmerzen im linken Ohr, daß er die Frage aufwarf: „Wie soll ich dabei Troja ausgraben?“ Auch das Sprechen erregte ihm große Schmerzen. Aber die Ohrmuschel wuchs schnell wieder an und am 6. Dezember berichtete er: „Zu meiner größten Freude geht’s seit gestern abend besser und habe ich zum ersten Male schlafen können. Heute keine Schmerzen und hoffe ich daher bald reisen zu können. Heute habe ich sogar einmal ausgehen können: es war mir eine große Wohlthat.“ In der That wurde ihm gestattet, am 12. Dezember abzureisen.

Er kam über Leipzig, wo er mit seinem Verleger, Herrn Brockhaus, sich berathen hatte, nach Berlin. Leider hatte seine Schwerhörigkeit wieder zugenommen. Er hatte Jodoformpulver in großer Menge in den Gehörgang eingeblasen und es zeigte sich, daß eine trockene Masse, von der nur ein kleiner Theil sich ohne Schwierigkeit entfernen ließ, den hinteren Theil des Gehörgangs verstopfte. Da er schon am Mittage des 14. Dezember nach Paris abreisen wollte, so rieth ich ihm, sich vorläufig mit milden, erweichenden Mitteln zu begnügen. Sein Zustand war im übrigen anscheinend ganz zufriedenstellend. Er hatte keine nennenswerthen Schmerzen, kein Fieber. Wir besuchten zusammen zu Fuß seine Sammlung im Museum für Völkerkunde, deren Neuaufstellung seinen höchsten Beifall fand. Dann aß er noch bei mir mit Appetit Frühstück, war heiter, theilnehmend und aufmerksam wie nur je in seinen besten Tagen, und als wir uns trennten, rief er mir noch zu: „Unsere nächste Reise geht nach den Canaren.“ Dieser Gedanke hatte ihn schon seit einigen Monaten beschäftigt.

Dann kam noch ein letzter Brief aus Paris. Er war im Grand Hôtel, in dem wir während der Ausstellung im Herbst

  1. Der griechische Name des Gottes der Heilkunde.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_066.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)