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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

dürftigen Geschenken in der Schürze und trotzdem frohen Gesichtes in die Weihnachtsstube schlüpfte. Beschert wurde immer daheim in dem ärmlichen Hause, und wenn es noch so kleine Gaben waren, anders hätte der Vater es nicht gethan. Der sparte ja schon von Neujahr ab wieder auf das Fest, und jedes fand etwas auf seinem Plätzchen. Es ist doch etwas Rührendes um so ein Vater- und Mutterherz, trotz aller Armuth giebt es noch! O, wäre sie jetzt daheim, nur auf ein Viertelstündchen!

Nein, sie wollte es doch nicht! Sie setzte sich auf einmal kerzengerade aufrecht in dem alten Ohrenstuhl, der noch vom seligen Berger stammte. Was wollte sie auch zu Hause? Sich fragen lassen, wie es ihr gegangen sei? Was sie geschafft, was sie erreicht und gewonnen habe in der Fremde, von der sie das Glück erhoffte?

Sie lachte leise und bitter. „Nichts!“ sprach sie halblaut, „nichts! – Nichts!“ wiederholte sie noch einmal und ballte die kleine Faust.

Sie hatte nichts gewonnen, sie hatte nur verloren – ihr junges Herz.

Und der, an den sie es verloren, der hielt es nicht der Mühe werth, sich danach zu bücken, oder er that wenigstens so. Während all der Zeit hatte er sie angeschaut mit sehnsüchtigen Augen; ihr Lachen hatte ihn froh gemacht, ihr Mißmuth ihn verstimmt; sie hätte ihn, wie Tante Polly sagte, um den Finger wickeln können, wenn sie nur gewollt hätte, aber Hilde war stolz, und sie wahrte sorgfältig den Schein, als ob ihr nichts an der Gunst dieses Mannes läge. Sie hatten miteinander getollt in den Malpausen, und sie hatten ernsthafte Gespräche miteinander geführt; sie hatte die Blumen an ihre Brust gesteckt, die er ihr schenkte, und jeden Tag war sie mit Herzklopfen, mit heimlicher süßer Bangigkeit die Treppe emporgestiegen nach dem Atelier, immer die Hoffnung in der Brust: heute - heute wird er Dir sagen, daß er Dich lieb hat! – Aber er schwieg, immer, immer!

Und je länger er schwieg, desto ungestümer, desto leidenschaftlicher ward ihr Begehren nach diesem Augenblick.

Sie hatte die unglaublichsten Kümmernisse zu erdulden. War er froh, so meinte sie, er habe gewiß eine andere Liebe und die glückliche Aussicht baldiger Erhörung; war er verstimmt, so glaubte sie, er gräme sich um eine heißgeliebte Ungetreue. Dann wieder, wenn er ihr eine Blume oder ein Buch schenkte, wenn er eine Schmeichelei sagte über ihre Schönheit, wenn seine blitzenden Augen die ihren suchten, befiel sie ein wahrer Taumel von Glück. Sie ging an solchen Tagen nach Hause, als habe sie unsichtbare Schwingen. Sie schrieb dann an die Schwestern ganz närrische übermüthige Briefe, sie herzte und küßte Tante Polly, daß diese fast erstickte, und peinigte die arme Frau mit ruhelosen Fragen über ihr Bild, ob es schön sei, ob ähnlich, und ob sie nicht finde, daß es unvergleichlich gemalt sei. Und andern Tages, wenn er die gewisse Falte zwischen den Brauen hatte, wenn er blaß und verdrießlich jeden Augenblick eine Ruhepause machte und in dieser aus dem Fenster starrte, um ihre Augen nicht sehen, ihr Geplauder nicht beantworten zu müssen, dann fand sie das Bild unter aller Kritik, schalt ihn heimlich einen Stümper, brach die Sitzungen früher ab, als bestimmt war, und weinte zum Erbarmen in ihrem Kämmerchen daheim. Sie nahm sich dann vor, ihm am andern Tage zu schreiben, es thue ihr leid, sie sei nicht imstande, zur Sitzung zu kommen; sie schrieb auch mit zitternden Händen irgend etwas, um es wieder zu zerreißen und dennoch hinzugehen, mit bleichem Gesicht und lachendem Munde. Wenn er dann fragte, warum sie so schlecht aussehe, ob ihr etwas fehle, antwortete sie ganz verwundert: „Was soll mir denn fehlen? Ich bin wohler denn je und vergnügt wie der Fisch im Wasser!“ Und dann zwang sie sich, lustig zu sein und zu lachen, bis ihr die Thränen aus den Augen rannen. –

Endlich war sie ruhiger geworden in dem Gedanken, daß es nach der Fertigstellung des Bildes sich entscheiden müsse. Sie hatte gehofft, er würde es heute vollenden, hatte davon geträumt, daß heute – –

Und da stieg ihr eine glühende Röthe in die Wangen, der ganze große Stolz, den sie besaß, bäumte sich in ihr auf. Sie hörte wieder seine gleichgültige Stimme von heute früh, als er auf ihre so wenig ernsthaft gemeinten Worte: „Ich glaubte, heute würden wir endlich fertig?“ antwortete: „Sie müssen noch einige Male stehen, zwischen Weihnacht und Neujahr; ich werde Ihnen den Tag sagen lassen. Ich weiß noch nicht, wann ich in die Stadt zurückkomme.“

„Sie verreisen?“ hatte sie gefragt.

„Ich gehe aufs Land.“

„Wann?“

„Heute noch.“

Es war ihr so ein halbes Aufschluchzen entschlüpft, aber sie hatte sich gleich darauf lächelnd an die Perlenschnur gefaßt, die eng den schlanken Hals umgab. „Ein bissel Husten, ich glaube, der Ofen raucht,“ hatte sie sich entschuldigt und ihn mit so stolzen Augen angefunkelt, daß er gemeint hatte, er sollte ihr statt des Fächers lieber einen Dolch in die Hand geben.

Ja, stolz war sie, sie wollte ihm nie zeigen, daß sie ihn liebte, nie! Aber sie würde dabei zu Grunde gehen, das fühlte sie. – Sie war so anders geworden, sie weinte so leicht, sie hatte nicht mehr die Kraft von früher, nicht mehr die kühne Zuversicht auf ihr Glück; sie fühlte sich so klein, so arm, so verzagt.

Plötzlich erhob sie sich, um Hut und Mantel zu holen; sie wollte in eine Kirche. Als sie aber auf den Flur trat, riß Tante Polly eben die Thür der guten Stube auf und der Glanz des Weihnachtsbäumchens quoll blendend in die Finsterniß. „Komm rasch!“ rief die alte Frau, und aus ihrer Stimme klang der Jubel, der selbst die ältesten Menschen in dieser Stunde seligen Gebens und Nehmens erfaßt. „Komm, Hilde, Du findest allerlei, auch von daheim!“

Und Hilde stand gleich darauf vor dem Bäumchen und hielt ein kleines Packet in der Hand.

„Das ist von Herrn Jussnitz,“ erklärte triumphirend die kleine Tante. „Mach’s auf, ich bin neugierig. Was meinst Du, Hilde,“ fragte sie dann leise und neckend, „wenn darin ein Ringelchen, so ein ganz schlichtes goldenes Ringelchen – –“

Die schlanken Finger hatten blitzgeschwind das Seidenpapier abgerissen und das kleine Etui geöffnet – farbig sprühten ihr drei Edelsteine entgegen. „Eine Brosche!“ sagte sie enttäuscht, während die Tante aufschrie vor Entzücken.

„Das Briefchen!“ rief die alte Frau, „da ist doch auch ein Brief.“ Aber es war nur eine Karte: „Leo Jussnitz, mit der Bitte um freundliche Aufnahme,“ lasen die zornigen Mädchenaugen.

Hilde warf das Etui und die Karte auf den Tisch, raffte im Flur Hut und Mantel vom Haken und lief hinaus auf die Gasse. Das Gesangbuch hatte sie vergessen, sie dachte auch nicht mehr an die Kirche, nur hinaus wollte sie. Draußen hatte sich der Wind gelegt, ein sternenklarer Himmel wölbte sich über der Erde, und auf den Straßen herrschte noch das letzte eilige Weihnachtstreiben. Behenden Schrittes wand sich Hilda durch das Gedränge und stand endlich nach langer Wanderung vor der einsamen Villa, in welcher das Atelier Leos sich befand. Sie wußte keinen anderen Platz in der großen weiten Stadt, wo sie Erfüllung finden konnte für ihre riesengroße Sehnsucht nach Alleinsein, nach einem stillen Winkel, in dem sie sich nicht zu verstellen brauchte. Nur eine Stunde allein, nur einmal aufschreien können, ungehört, unbedauert!

Sie riß ungeduldig an der Schelle, und als die alte Frau mit der Laterne eilig dahergetrippelt kam, sagte sie, sie habe heute etwas vergessen im Atelier, das sie nothwendig holen müsse.

„Ist recht,“ meinte die Alte und ging, ein Licht zu holen. Mit einer brennenden Kerze stieg Hllde gleich darauf die Treppe empor und schloß das Atelier auf. Sie trat, das Licht in der Hand, vor das Bild und betrachtete es lange. Sie fand es sehr schön in diesem Augenblick; das blaßgelbe Seidenröckchen mit dem schwarzen Spitzenbesatz schien förmlich bewegt von der lebendigen Haltung des Körpers; lächelnd schaute das blasse Gesicht aus der Mantille. So hatte sie vor ein paar Wochen noch ausgesehen, so hatte er sie auf die Leinwand gezaubert, aber das Lächeln hatte sie verlernt.

Sie wandte sich ab, stellte das Licht auf ein Tischchen, warf sich in einen der Lehnstühle am Ofen und starrte auf einen Fleck. „Wenn er jetzt käme,“ sagte sie, „wenn er nur jetzt käme, dann fragte ich ihn, ob er mich liebt. Ach, nur Gewißheit, nur endlich Gewißheit!“ – –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_118.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)