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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

werden. Sie hatte es ja immer gesagt, daß in den Zweidorfschen Mädchen leidenschaftliches Blut stecke, und – ach, Großer Gott, sie hatte recht behalten! Wenn das der Berger noch erlebt hätte! Trau doch einer den Menschen – wie hatte das Mädchen stolz gethan, und er – Gott verzeih’ ihm, daß er so ein armes unerfahrenes Ding betrügt!

Athemlos langte sie vor der schmiedeeisernen Pforte an, sie war gelaufen, als gälte es, einem mit dem Tode Ringenden Hilfe zu bringen. Und da lag hinter dem kahlen Geäst der Linden das Schlößchen und sah so reich und wohnlich aus. Hinter den Fenstern schimmerten Spitzengardinen, und an einem der oberen blühte ein Flor von Hyazinthen und Maiglöckchen, ein ganzer Frühling; aber das Frauenhaupt über den bunten Blumen da droben, das blonde Frauenhaupt, an das sich ein lockiges Kinderköpfchen schmiegte, sah Tante Polly nicht.

„Wünschen?“ fragte ein in blauen Sammetbeinkleidern und lederfarbenem Tuchrock einherstolzirender Diener, der auf das Klingeln erschienen war.

„Ist vielleicht ein Fräulein hier? Zweidorf heißt sie.“

„Jawohl!“

„Ich bin die Tante und möchte sie gern sprechen.“

„Sehr wohl – wollen Sie nicht eintreten –“

Tante Polly folgte dem Manne in das Haus; von droben sah Antje sie hineingehen. Die junge Frau war aus der Kirche heimgekehrt, in ihr kleines Stübchen geflüchtet und hatte sich mit der Maus ans Fenster gesetzt, das Herz voll von Sorgen und Angst, aber auch wieder voll Mut und Zuversicht. „Das wird wohl die Tante sein, Maus,“ sagte sie.

Ein Weilchen verging, dann kam der Diener zu Antje herein und berichtete, Fräulein von Zweidorf weigere sich, ihre Tante zu empfangen, und die alte Frau weine so sehr und bäte immer wieder, sie doch zu dem Fräulein zu führen; aber die habe ihr Zimmer verschlossen.

Antje gab den Auftrag, die Tante zu ihr zu bringen; sie setzte die Kleine auf den Teppich und ging Tante Polly entgegen, die mit ebenso verweintem als verwundertem Gesicht auf der Schwelle erschien.

Ich habe das Vergnügen mit Frau Berger – ? fragte Antje.

„Zu dienen,“ stotterte die kleine, ganz aus der Fassung gebrachte Frau.

„Und ich bin Frau Jussnitz,“ fuhr Antje freundlich fort, „wollen Sie nicht Platz nehmen und ein wenig den Mantel aufmachen? Sie möchten Ihre Nichte gewiß wieder mitnehmen, und Fräulein Hilde fühlt sich verletzt und weigert sich – nicht wahr? Sie hätten aber auch nicht gleich so strenge sein dürfen, als mein Mann und ich sie Ihnen gestern nacht bringen wollten; nicht jeder kann das vertragen.“ Antje lächelte dabei und knüpfte der alten Frau die Bänder des Hutes auf. Tante Polly ließ es wortlos geschehen, selber hätte sie es vor Aufregung doch nicht zustande gebracht.

„Fräulein Hildegard hat unter meinem Schutz eine kleine Gesellschaft besucht,“ fuhr Antje fort, „sie stellte ein lebendes Bild in ihrem spanischen Kostüm, um meinem Mann – der sie malt, wie Sie wissen – eine Freude zu machen. Wohl hätte sie Ihnen das sagen lassen sollen; aber die Sache kam ganz plötzlich – nicht wahr, Sie sind dem armen Kinde nicht mehr böse, und Sie erlauben auch, daß sie einige Wochen bei uns bleibt?“

Tante Polly saß stumm auf dem Sofa, sie fand noch immer kein Wort. Sie konnte es noch nicht fassen, daß sie hier vor der Frau des Mannes stehe, der, wie sie fest angenommen hatte, Hilde liebte und wieder von ihr geliebt wurde. Nun hatte die Sache eine andere Wendung genommen, eine bessere – ja, Gott sei gelobt! aber – das Kind, das arme Kind!

„Wir haben gar nicht gewußt,“ stotterte sie in ihrer Verwirrung, „daß Herr Jussnitz verheirathet ist – entschuldigen Sie nur, ich dachte – ich glaubte –“

Antje sah sie erblassend an; ihr schmerzlich verwunderter Blick traf die alte Frau ins Herz und ließ sie einen Schimmer von der Wahrheit ahnen.

„Das heißt – wir haben uns nicht darum bekümmert,“ fuhr sie ungeschickt fort, „was geht uns das auch an? Hilde hatte ja mit Herrn Jussnitz gar nichts weiter zu thun, als eben nur still zu stehen, wenn er sie malte, und ich ging dann immer mit, und da – wissen Sie, gnädige Frau – da haben wir auch nicht grad viel gesprochen, denn Herr Jussnitz malt immer so eifrig, und wir hatten dann auch immer Eile, heim zu kommen; sonst leben wir so stille, und die Leute, die wir kennen, die kennen Herrn Jussnitz auch nicht, und so ist’s geschehen, daß wir gar nicht wußten, daß Herr Jussnitz eine Frau hat. Wenn’s die Hilde gewußt hätte, wäre sie wohl mal herausgekommen und hätt’ Sie begrüßt, gnädige Frau, weil ja doch Herr Jussnitz ihre Familie kennt, und –“ Sie schwieg, vollständig athemlos und verwirrt.

„Mein Mann ist so mit Leib und Seele bei seinem Beruf, daß er, wenn er malt, ganz naheliegende Dinge vergißt,“ meinte Antje lächelnd, mit blassen Lippen. „Das dürfen Sie ihm nicht übelnehmen, liebe Frau Berger, es ist keinesfalls eine Unart gegen Fräulein Hildegard beabsichtigt gewesen, als er mich nicht erwähnte oder sie nicht aufforderte, mich zu besuchen. Er ist eben einfach völlig hingenommen von seiner Arbeit, dem schaffenden Künstler verschwindet die Außenwelt.“

Und sie stand auf und holte die Kleine. „Komm, gieb der Dame die Hand; finden Sie nicht, Frau Berger, daß sie meinem Manne sehr ähnlich sieht?“

„Ja, ja!“ sagte Frau Polly, die Augen voll Thränen, und strich mit der Hand über den Kopf des Kindes. „Entschuldigen Sie nur, Frau Jussnitz, ich möchte doch versuchen, die Hildegard zu sprechen. Ich bin ihr gar nicht böse, mich dauert sie nur, und ich meine, es ist besser, sie geht mit mir; ich möcht’ ihr’s doch einmal vorstellen.“

„Ich werde Sie gern hinüberbringen und Fräulein Hilde zu bewegen suchen, daß sie aufschließt,“ erwiderte Antje.

Als die junge Frau sich vor der Thür des Mädchens meldete, ward aufgethan, und Frau Polly schob sich hinein.

Es war ein sehr freundliches Zimmer, in dem sich Hildegard befand. Ganz mit buntem Cretonne ausgeschlagen, bildete es eine Art Zelt; Bett, Sofa, Sessel waren mit gleichem Stoff bekleidet. Ein weicher blumiger Teppich bedeckte den Fußboden und dort an dem hohen Spiegel, der bis zur Erde reichte, wiegte sich noch der soeben verlassene Schaukelstuhl. In dem zierlichen kaminartigen Ofen flackerte das Feuer.

„Bist Du’s wirklich?“ entfuhr es Tante Polly, hinter der sich die Thür geschlossen hatte; und sie staunte das schlanke schöne Mädchen an, das in einem losen blaßrosa Morgenkleid von Antje – demjenigen, welches sich die junge Frau einst bestellt hatte, um ihren Mann zum Hochzeitstage darin zu überraschen, und das sie doch nie getragen hatte, so neu und überraschend schön aussah, als hätte ein geschmackvoller Schneider das Gewand eigens für sie erfunden.

Hildegard stand mit sehr verschlossenem Gesicht da, die Lippen aufeinander gepreßt. Aber Tante Polly hatte längst vergessen, daß sie böse gewesen; sie dachte nur noch daran, daß dem Kinde dort eine große schöne Hoffnung zertrümmert worden war. „Du armes Ding Du,“ sagte sie mitleidig, und die Thränen flossen ihr aus den Augen, „hätt’ ich’s nur so gewußt, wie ich’s jetzt weiß, kein böses Wort hättest Du gehört – sei wieder gut, meine Hilde, und komm mit nach Hause, Du kannst doch hier nicht bleiben!“

Aber Hilde war weder eine von denen, die Beleidigungen leicht vergessen, noch gehörte sie zu jenen, die Mitleid ertragen. „Ich bleibe hier, Tante,“ sagte sie kühl, „und wenn mein Bild fertig ist, dann gehe ich wahrscheinlich – –“ Sie stockte und wickelte das rosa Seidenband ihres Kleides verlegen um die Finger.

„Hilde, was willst Du hier? Laß das Bild – er mag sehen, wie er es fertig bekommt. Wozu Dir noch so schwere Tage machen? Es thut mir in der Seele weh, wenn ich Dich ansehe; es ist so ein himmelschreiendes Unrecht, daß er Dir nicht gesagt hat, er sei verheiratet. Komm, Hilde, hier ist Deines Bleibens nicht!“

„Ich weiß nicht, was Du willst, Tante?“ sagte sehr langsam die junge Nichte. Die erblaßten Lippen bewegten sich kaum. „Ich – –“

„Hilde, denk’, Dein Vater stände vor Dir! Nicht wahr, dem könntest Du nichts ableugnen? Sei auch offen gegen mich! Du bist dem Menschen gut geworden – kannst Du es leugnen? Herr Gott, Kind, schüttle nicht den Kopf – in all der Zeit hat’s ja jeder Zug in Deinem Gesicht, jeder Schritt von Dir verrathen! Ich bitt’ Dich, Kind, komm mit, Du darfst hier nicht bleiben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_166.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)