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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 19.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(2. Fortsetzung.)


3.

Schon vom nächsten Tag an gingen die bisher so einigen Schwestern fremder nebeneinander her. Rahel wartete auf ein vertrauendes Wort, welches nicht zu ihr gesprochen wurde. Sie schloß nur aus dem strahlenden Gesicht ihres Vaters, daß die Heirathspläne mit Clairon ganz aufgegeben seien. Dabei zeigte Lea aber keine unglückliche Miene, und niemals wurde sie gar mit verweinten Augen von der Schwester überrascht. Nur ihre Haltung war noch entschlossener geworden und ihr Ausdruck stolzer.

Einige Tage unterließ Rahel aus der ihr angeborenen Zartheit des Empfindens, eine Frage an die Schwester zu richten. Dann wurde ein kleiner Trotz in ihr wach, von dem begreiflichen Gefühl der Kränkung veranlaßt, daß man sie durch dies Schweigen gleichsam vom Recht der Theilnahme ausschloß.

Aber als man in der folgenden Woche bei Raimar versammelt war, um dessen Abschied aus dem Amt zu feiern, sah Rahel, daß Clairon wohl ein wenig ernster als bisher, aber sonst ganz unbefangen mit Lea verkehrte, so daß niemand, außer den Eingeweihten, vermuthen konnte, es habe sich inzwischen Bedeutsames ereignet.

Am Abend dieses Tages, während die Schwestern in ihrem gemeinsamen Ankleidezimmer noch beschäftigt waren und Lea, anstatt zu sprechen, eine Melodie vor sich hinsummte, brach Rahel in Thränen aus.

„Was ist denn das?“ fragte Lea, sich unterbrechend.

„Du hast mich von Deinem Herzen verstoßen,“ schluchzte Rahel.

Anstatt gerührt zu werden, rief Lea in steigender Verwunderung aus: „Welche Sentimentalität!“

Sie wußte wenig von dem Herzen der Schwester und ahnte nicht, daß dieses Wesen, phantasielos und verschlossen, unfähig, sich gleich andern Mädchen vorübergehenden Schwärmereien hinzugeben, mit ihrem ganzen Dasein aufging in der Liebe zu den Ihrigen.

„Du hast kein Vertrauen mehr zu mir,“ fuhr Rahel fort.

„Ach, weil ich Dir meinen Abschied von Clairon nicht mitgetheilt habe!“ sagte Lea; „nun, das läßt sich ja nachholen. Komm, sei nicht albern! Höre auf zu weinen!“

Und sie erzählte alles, was zwischen ihr und Clairon gesprochen worden war. Aber während sie sprach, redete sie sich in einen großartigen Schwung hinein und gebrauchte sehr bedeutende Worte für die Höhe ihrer Entsagungsfreudigkeit und ewigen Liebe, welche sie dem einen auch dann noch bewahren würde, wenn sie sich vielleicht einst mit irgend einem beliebigen Mann standesgemäß verheirathen würde.


Die Tarockbrüder.
Nach einem Gemälde von Kurz-Gallenstein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_309.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2023)