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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

selber aus. Es stand uns ja noch der Weg über die Höhe offen, der zwar steil und in der Hitze beschwerlich war, aber unfehlbar ans Ziel führte. So eilten wir lachend und scherzend, als ob unser Vergnügen durch die nassen Schuhe noch vermehrt sei, zu der gemauerten Straße zurück und wandten uns vor den Augen des „Principe“, der uns beharrlich nachblickte, dem Solaro zu.

Ich bat heute der Signora im stillen den Vorwurf der Weichlichkeit ab, so wacker hielt sie sich auf dem beschwerlichen Weg. Und wenn sie auch oft schwer athmend stehen blieb und sich mit dem bunten seidenen Tüchlein die Stirn wischte, so kam doch keine Klage über ihre Lippen. Endlich hatten wir die Höhe der Marigola erreicht und hier zweigte unsere Straße rechts um die Ecke nach dem Walde ab. Nur wenige ebene Schritte an der Besitzung der Maccarani vorüber, dann ging es bergab eben so steil, wie wir heraufgeklommen waren, aber die Kühle des Eichen- und Olivendickichts empfing uns hier und von unten wehte uns die Seebrise in die erhitzten Gesichter. Jäh abfallend führte der Weg am Rande eines ausgetrockneten Waldbachs hin, der sich ein tiefes Bett durch das Gehölz gerissen hatte und bald schimmerte es tiefblau herauf – ein Jubelruf grüßte den Anblick und unten standen wir auf dem Sande des langen halbmondförmigen Gestades.

Einen schöneren Tag als diesen habe ich nie am Strande gesehen. So neugeboren, so ahnungsvoll und erinnerungslos blickte das Meer, als ob sich nicht schon Tausende und Tausende von Geschlechtern in seinem Auge gespiegelt hätten, als ob noch wie dazumal am Schöpfungsmorgen der Geist Gottes über den Wassern schwebte. Der Tino und die Palmaria sahen wie frisch gewaschen aus den Fluthen herüber, von Lerici tönte sonntägliches Glockengeläute. Die Vormittagssonne wob über den grünlichen Spiegel ein Netz von Strahlen, das in goldenen Maschen auf den Sandwellen des Grundes flimmerte. Nach diesem Netze haschen, es zerreißen und die zitternden Strahlen ihr zertrenntes Gewebe wieder herstellen sehen, dann uns gegenseitig mit Schaum überspritzen oder wetteifernd nach einem bunten Kiesel auf den Grund tauchen – über diesem kindlichen Spiel müssen uns Stunden vergangen sein. Signora Clelia vergaß selbst die immerwache Sorge um ihr schönes Haar, sie ließ die entfesselten braunen Flechten im Wasser spielen und tauchte wie ein Delphin. Und rings umher die tiefste Einsamkeit, kaum daß dann und wann verlorenes Hundegebell von Lerici herübertönte. Die Villa Orlandini, deren Parkthor auf unsern Strand herausgeht, ist dieses Jahr unbewohnt geblieben, da sie von einem Amerikaner gemiethet, aber nicht bezogen wurde; also auch von dieser Seite her ist keine Störung zu fürchten. Die italienische Gesellschaft, die uns sonst unsern Badeplatz streitig machte, hält sich fern, natürlich im Aberglauben, daß nach Sturm- und Regentagen das Seebad durch das hinzugekommene Süßwasser schädlich sei. Somit sind wir für heute unbestrittene Herrinnen des Gewässers.

Und dann nach dem Bade das sonnige, wonnige Lagern auf dem weichen durchglühten Sand! In den weiten weißen Mantel gehüllt, den breiten Hut über das Gesicht gezogen, sich mumienhaft einbetten im Sande, mit einem freigebliebenen Arm immer neue Schichten heißen Sandes über sich thürmen, bis die ganze Gestalt unter einem Sandhügel verschwunden ist, dann die Last mit einem Mal abwerfen und den Bau von neuem beginnen – aus den Ritzen des Hutes, durch welche goldene Strahlen schießen, hinaufblinzeln in das satte ungebrochene Blau, das uns oben, unten, allgegenwärtig umfängt, und endlich eingelullt von dem endlosen eintönigen Cikadengeschmetter, gedankenlos, selbstverloren ins All hinüberdämmern, sich nicht mehr als Mensch fühlen, sondern als ein beseeltes Stück der umgebenden Natur, als einen Wassertropfen, der zu der unendlichen Fluth gehört, als ein Sandkorn im weiten Sandgefilde! –

Aus diesem seligen Behagen riß uns jählings eine rauhe Stimme, die in barschem Tone ein Almosen heischte.

Entsetzt fuhren wir beide in die Höhe. Vor uns stand ein stämmiger Kerl von abschreckender Häßlichkeit mit einem dicken knorrigen Stock, in Lumpen von jener seltsamen gelblich braunen Farbe gehüllt, die in aller Herren Ländern die eigentliche Bettlerlivree zu sein scheint. Auf mächtigen Augenknochen standen wahre Buschwälder von Augenbrauen, die schwarzen dicken Haare hingen in einem Büschel aus dem durchlöcherten Kopf eines breiten Filzhutes heraus, von dem eigentlich nichts vorhanden war als die Krämpe.

Noch starrte ich ihn fassungslos an, denn ich glaubte mich im Bann eines wilden Traumes, da tönte hinter mir eine andere Stimme: „Un soldo, Signora!“ – und zurückfahrend sah ich einen zweiten Kerl mit Knotenstock, womöglich noch unheimlicher als der erste, denn sein Gesicht war mit Pockennarben zerackert und über dem rechten Auge trug er einen schwarzen Wachstuchfleck.

Ich suchte mein Entsetzen so gut wie möglich zu verbergen und antwortete mit erkünsteltem Unwillen:

„Was fällt Euch ein? Glaubt Ihr denn, man nehme die Börse mit ins Bad?“

Signora Clelia drängte sich an mich heran und suchte ihr goldenes Armband in den Falten des Bademantels zu verbergen; es war an ihrem linken Arm angeschmiedet und hätte ihr nur mit diesem selbst entrissen werden können.

Da tönte es aufs neue mit dumpfer Stimme:

„Un pezzo di pane, Signora!“ Ein Stück Brot!“

Unhörbar war ein Dritter durch das Gebüsch herangeschlichen, schwarz und fürchterlich wie die ersten, ein Kerl, dem der Hunger aus dem fahlen, hagern Gesicht sah.

Wuchsen die Unholde aus dem Boden? War das ganze Zuchthaus los? Da stand ein Vierter – und noch kein Ende.

Sie schlossen einen Kreis um uns, sagten aber kein Wort mehr. So standen wir uns gegenüber, wie lange, weiß ich selbst nicht, doch war es lange genug, um uns diese Gestalten auf ewig ins Gedächtniß zu prägen, die scheußlichen Banditengesichter, die kurzen, nur bis zu den Knieen reichenden, zerschlissenen Beinkleider, unter denen die sehnigen Beine und bloßen Füße zum Vorschein kamen, die grotesken Filzhüte, die in der Farbe an fetten Humus erinnerten, auf dem eben Moos zu keimen beginnt.

Unsere Blicke flogen rasch nach allen Seiten, ob nirgends Hilfe zu finden wäre. Die schöne Einsamkeit, die wir noch soeben gepriesen hatten, war jetzt unsere schrecklichste Feindin geworden. Auf der Fahrstraße von Lerici war keine Seele zu sehen, der Klippenweg nach San Terenzo war durch das Wasser abgeschnitten, das Thor der Villa Orlandini blieb verschlossen.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_368.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)