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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nr. 26.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

(9. Fortsetzung.)

10.

Die gute Christel hatte die Gewohnheit, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse im Leben ihres Herrn lange, still und kritisch nachzudenken; es waren deren ja auch so wenige, daß sie jedes einzelne in Gedanken oft jahrelang durchnehmen konnte. Dadurch hatte sie sich eine wahrhaft philosophische Ueberlegenheit angeeignet, und nichts vermochte sie aus ihrer Ruhe zu bringen. Und gerade, wenn ihr Herr sehr erregt war, steigerte sich diese Ruhe. Sonderbare Zwistigkeiten brachen dann zwischen ihnen aus; er warf ihr Theilnahmlosigkeit vor, während sie sagte, daß er noch immer nicht gelernt habe, sich wie ein gesetzter Mensch zu benehmen.

Den Tag nach Rahels Ankunft gönnten sie einander kein gutes Wort. Raimar wollte durchaus, daß Christel sich mit entrüsten solle über den „Rabenvater“ und das „Ungeheuer von Lea“; Christel fand es beinahe jämmerlich, daß ein Mensch von gesunden Sinnen seine Meinung so ändern könne wie eine Wetterfahne. Er habe ja stets in Römpker wie in einen vergoldeten Kelch gesehen, während sie ihn von jeher für einen Leichtfuß taxiert habe; er sei ja immer in Leas schöne Fratze verliebt gewesen, während sie die Lea nie für etwas anderes als für eine Zierpuppe ästimiert habe. Um Rahel habe er sich gar nicht bekümmert und seine jetzige plötzliche Hitze habe in ihren – Christels – Augen so viel wie gar keinen Werth. Sie habe keinen Grund, sich über die Römpkers aufzuregen, denn sie sei in keiner Weise verwundert, sie habe gar nichts Besseres von diesen Menschen erwartet. „Denn wer auf den Wegen von Hochmuth und Selbstsucht wandelt, geht auch über sein eigen Fleisch und Bein weg,“ schloß sie feierlich.

Raimar entgegnete, sie solle ihre Predigten für sich behalten.

Und jeder wollte dem andern zeigen, daß er der eigentlich Berufene wäre, sich Rahels anzunehmen, so daß diese schon in den Morgenstunden des ersten Tages vor lauter Pflege zu keinem Augenblick der Gemüthlichkeit kam.

Sie aber bedurfte keiner Pflege mehr; sie hatte sich selbst und ihre stille sichere Haltung wiedergefunden.

Auf das Geschehene sah sie klar zurück. Sie fühlte, daß, wenn noch einmal alles so wiedergeschehen könnte. auch sie wieder ebenso handeln würde. Sie hatte unter einem sittlichen Zwang gehandelt.

Vielleicht hätte sich eine besonnenere Form finden lassen, die Verlobung Leas mit Lüdinghausen zu verhüten. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, Lüdinghausen selbst noch zu benachrichtigen im Augenblick, ehe man sich zu Tisch begab. Indeß, sie hatte ja noch dem Vater beschwörende und aufklärende Warnungen

Ein lustiges Stück.
Nach dem Gemälde von Alois Eckardt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_429.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)