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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

2.0 Wenn die Vernunft spazieren geht!

Obschon zwischen Doktor Claudius und den angesehenen Bewohnern von Kronfurth das beste Einvernehmen bestand, hatten diese dennoch bisher vergebens einen engeren Verkehr mit Hermannsthal angestrebt. Trotzdem ließ man es an keiner Aufmerksamkeit für den Mann fehlen, der seinerzeit mit dem Antritt seines Erbes eine große Schenkung an Kronfurth verbunden und sich seitdem an allen gemeinnützigen städtischen Unternehmungen in freigebigster Weise betheiligt hatte. Wer so handelte, nahm Antheil an der Stadt und konnte ihr nicht lebenslang fern bleiben, sondern heirathete sich schließlich doch noch darin fest! Das war die stille Zuversicht sämmtlicher Väter und Mütter der weiblichen Jugend von Kronfurth.

Diese Jugend! Dem Doktor kam es vor, als sei sie dutzendweis in einer Puppenfabrik entstanden und dutzendweis nach dem gleichen Muster modern herausgeputzt worden. Alle Puppen von vierzehn bis zu vierzig Jahren trugen die neueste Mode zur Schau, leider aber nicht in einer dem Alter und Aeußern der Einzelnen entsprechenden Verschiedenheit, sondern völlig uniform, so daß eine gesellige Vereinigung der jungfräulichen Kronfurtherinnen an nichts so sehr gemahnte als an eine militärische Parade.

Ernst Claudius entsann sich eines Junisonntages, an welchem er die Stadtpromenade wie eine Modenzeitung studiert hatte und schließlich durch anderthalb Dutzend Mozartzöpfe unter Rembrandthüten in die Flucht geschlagen worden war.

Als die Puppen eines Tages mit langen Stockschirmen und Herrenhüten erschienen, sagte Claudius – noch Schlimmeres gewärtigend – der Stadtpromenade und ihren Grazien für immer Lebewohl.

Das städtische Kasino, schließlich der einzige Ort, welchen er noch bisweilen zum Zweck des Zeitungslesens aufsuchte, hatte sich seines Besuches nun auch seit nahezu Jahresfrist nicht mehr erfreut. Da schien plötzlich eine Wendung zum Besseren eintreten zu wollen – eines Nachmittags, mehrere Tage, nachdem das zur Zeit noch verschleierte Bild der Namenlosen von des Doktors Gedanken Besitz genommen hatte, erblickten ihn die Kronfurther Stadtväter zu ihrer nicht geringen Genugthuung im Lesesaal des Kasinos, von Zeitungen umgeben und offenbar ganz in die Neuigkeiten vertieft. Er studierte eine Weile die „Norddeutsche Allgemeine“, dann schaute er gedankenvoll darüber hinaus und nun lag ein zerstreuter, unruhiger Ausdruck in seinen dunklen Augen.

„Vielleicht spekuliert er!“ flüsterte der Polizeirath Adler dem Bürgermeister Weinland ins Ohr.

„Oder er ist verliebt!“ entgegnete dieser, der glückliche Besitzer von einem halben Dutzend der erwähnten Mozartzöpfe, und setzte sich zurecht, um im Schatten der „Kölnerin“ den zur Begrüßung mit Claudius geeigneten Augenblick abzuwarten.

Leider vereitelte das Schicksal für diesmal seinen Plan. Als der Fabrikherr endlich einmal die Augen erhob, geschah es, weil jemand, der soeben eingetreten war, seine Schulter freundschaftlich mit der Hand berührt hatte. Dieser „jemand“ war eine in Kronfurth gleichfalls wohlbekannte Persönlichkeit: Herr Albert Gerlach, Frau Ediths Bruder und gleichzeitig zweiter Direktor von Hermannsthal.

Claudius hatte den jungen Mann bei Eberhards Hochzeit kennengelernt und sich sogleich durch dessen frisches, freimüthiges Wesen lebhaft angesprochen gefühlt. Bald wünschte er sich aufrichtig Glück, eine so tüchtige, vielseitige Kraft zur Mitwirkung gewonnen zu haben, und schätzte seinen Arbeitsgenossen um so höher, je mehr dieser nicht nur den Vortheil des Geschäfts klug und gewissenhaft vertrat, sondern auch ganz ersichtlich mit dem Herzen an Hermannsthal und dessen Eigenthümer hing. Sobald Gerlach nicht durch amtliche Reisen fern gehalten wurde, theilte er mit Doktor Claudius die trauliche Einsamkeit des Herrenhauses, welches er wegen der die Treppe hütenden steinernen Ungethüme die „Drachenburg“ getauft hatte. „Ich darf dies um so eher, da mein Chef sich eines fröhlichen, ledigen Standes erfreut,“ äußerte er gelegentlich in seiner scherzenden Art, „angesichts eines lebendigen Drachen würde mir doch der Muth dazu mangeln.“

Hinsichtlich der Kronfurther kannte und theilte der junge Direktor die Ansichten seines Freundes, aber es belustigte ihn dennoch, bisweilen an den städtischen Vergnügungen theilzunehmen und dieser oder jener der Puppen etwas weis zu machen. Vielleicht wurden seine leichten Aufmerksamkeiten nicht ernster genommen, als sie es verdienten, jedenfalls war Albert Gerlach den Kronfurtherinnen, welche nach Abzug der Ballväter und Eisonkel nur über sehr wenige Herren verfügten, als Tanz- und Kränzchenkavalier unschätzbar. Daß er einen wenn auch schwachen Verbindungsfaden zwischen Kronfurth und Hermannsthal bildete, stellte ihn natürlich noch erheblich höher im Kurs!

Erst diesen Nachmittag war der junge Mann von einer mehrwöchigen Abwesenheit zurückgekehrt und, da er den Doktor in der Drachenburg nicht vorfand, sofort nach Kronfurth gegangen.

„Eberhards, bei denen ich vorsprach, wußten nichts von Ihnen,“ sagte er nach der ersten, herzlichen Begrüßung. „Da begab ich mich aufs Gerathewohl hierher. Aber Sie scheinen ärgerlich oder verstimmt, werther Freund. Irre ich?“

„Leider irren Sie nicht, lieber Gerlach. Ich bin verdrießlich und unzufrieden.“

„Unzufrieden – mit wem?“

„Mit mir selbst! Haben Sie noch etwas in der Stadt zu thun, oder können wir nach Hermannsthal zurückkehren?“

„Sogleich, wenn Sie Ihre Zeitungen im Stich lassen wollen.“

„Ich bin fertig.“ Trotz dieser bestimmten Erklärung und obwohl sich Ernst Claudius unverzüglich erhob, schienen sich seine Blicke nicht von der Zeitung losreißen zu können, welche er eben aus der Hand gelegt hatte.

Gerlach errieth, daß es damit eine besondere Bewandtniß haben müsse. „Nehmen wir sie mit,“ sagte er halblaut. „Es ist eine ältere Nummer.“

Ernst Claudius blickte rasch auf und erröthete wie ein Schulknabe. „Sie sind sehr freundlich, lieber Gerlach, ich danke Ihnen.“

Das konnte für eine Ablehnung gelten, allein der junge Direktor verstand es anders und schob das Blatt in die Tasche seines Ueberziehers. Bald darauf befanden sich die beiden Männer auf dem Heimwege und schritten tapfer aus, um Hermannsthal vor dem Dunkelwerden zu erreichen. Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Der unter ihren Schritten knisternde Schnee bildete fast das einzige Geräusch in dieser winterlichen Stille.

Endlich begann Claudius: „Können Sie sich vorstellen, lieber Gerlach, daß ein Mann meiner Art eines Tages urplötzlich seine gesunde Vernunft spazierengehen heißt und deren Abwesenheit dazu benutzt, eine rührselige Jünglingsthorheit, einen Narrenstreich, ein – ich finde keinen Namen dafür! – zu begehen?!“

„Warum nicht, Verehrtester? Gerade etwas derart, ein Quentchen göttlichen Leichtsinns, fehlte Ihnen in meinen Augen noch zur Vollkommenheit, oder besser: ich fand es jammerschade, daß jener leichte Muth so ganz unter Pflichten und Würden und gutsherrlicher Ehrbarkeit begraben lag; denn an seinem Vorhandensein habe ich niemals gezweifelt, auch niemals angenommen, Sie könnten sich diesen kostbaren Besitz um Gold und Ehren abkaufen lassen, wie jener Thor im Märchen sich das Lachen abkaufen ließ.“

„Das nenn’ ich geredet! Schließlich werden Sie mir gar meine Eselei als eine verdienstliche Leistung und die Fähigkeit, noch mit sechsunddreißig Jahren dem ‚dummen Jungen‘ zu spielen, als eine Tugend anrechnen!“

„Sicherlich, Doktor! Im Ernst gesprochen: diese Stunde rückt mich Ihnen doppelt nahe und ich wünsche aufrichtig, Sie möchten mir vollends Ihr Vertrauen schenken.“

„Das soll geschehen, noch heute, nach der Abendmahlzeit! Ich glaube auch, auf diese Weise am besten mit der Sache fertig zu werden.“

„Trefflich! Und lassen wir, wenn es Ihnen recht ist, eine Flasche Ihres ausgezeichneten alten Burgunders die Dritte im Bunde sein. Es beichtet und büßt sich besser mit feuchter Kehle.“

„Eine für Euch, eine für mich!“ murmelte der schöne Amadeus, als er, unter jedem Arm eine verstäubte Flasche, die Kellertreppe emporklomm. „Es kann niemand verlangen, daß ich die Verschwörungsscene, den Glanzpunkt der ‚Nachteule‘, bei Wachholderschnaps zustande bringe!“



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