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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

sie sich an Vitus: „Mein Lieber, Guter, nimm ’s nicht so schwer! Ich begreife Dich nicht!“

Er entfernte die Hände vom Gesicht, und sie erschrak.

„Vor wenigen Minuten noch,“ begann er leise, „vor wenigen Minuten redete ich mir ein, alles werde sich zum besten wenden. Als ich den Brief empfing, ahnte ich den Inhalt, aber nicht das volle Unheil; als ich den Namen meines Nachfolgers sah, wußte ich mein Schicksal.“

Ida zuckte die Schultern. „Tannhauser! Der oder ein anderer, das ist doch gleichgültig. Du hast volle acht Tage –“

„Nicht acht Stunden!“ fiel er ein. „Wenn ich nicht zu harmlos wäre, um Feinde zu haben, würde ich glauben, ein Feind habe mich im Verdacht und schicke mir nun Tannhauser auf den Nacken.“

Ida hob den Brief auf und las ihn nochmals, Wort für Wort. Und jetzt verstand sie ihren Gemahl: er mußte alles seinem Nachfolger übergeben und dieser konnte sein Amt sofort antreten.

Sie schritt einige Male auf und ab, dann sagte sie entschlossen: „Ich werde dem Assessor mittheilen lassen, daß Du heute außer stande bist, ihn zu empfangen, und daß er selbst sich schonen und nach Bequemlichkeit in den nächsten Tagen erst die Uebernahme vollziehen soll.“

„Und wenn er sterbenskrank wäre, würde er heute aufstehen, um sich die Amtsgeschäfte überweisen zu lassen. Wenn er Bücher und Aken einsehen will, muß ich sie vorlegen; eine Ausflucht und ich bin verdächtig, werde überwacht und ausgeforscht von diesem fürchterlichen Menschen. Schon als Referendar erhielt er den Uebernamen ‚der Korkzieher‘. Unfehlbar kommt er auf die Wahrheit, ich bin ihm nicht gewachsen.“

„Aber ich!“ rief Ida und ihre Augen blitzten.

Der Richter schüttelte traurig den Kopf. „Der Stein ist im Rollen. Wenn wir Tannhauser heute hinhalten, holt er mich morgen früh aus dem Bett, vorläufig aus Amtseifer.“

Ida dachte nach. „Verena oder ich müssen nach Steinberg fahren!“

Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihren Mann, erstarb indessen sofort wieder.

„Was kann das helfen! Selbst wenn Ihr Erfolg hättet und die Summe in gültigen Papieren bringen würdet – ach! vergiß nicht die Nummern, die unseligen Nummern! Die Luchsaugen Tannhausers werden den Fehler im Nu entdecken, und da er immer das Schlimme voraussetzt und ihm mein Lebensglück nicht mehr gilt als eine taube Nuß, wird er so lange spüren und forschen, bis er meine Schuld nachgewiesen hat. Das Geld ist wohl vorhanden, meine Ehre dennoch dahin!“

Er richtete sich mühsam auf. „Ida,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „mache Dich auf die Wahrheit gefaßt: ich bin verloren!“

Sie fielen einander in die Arme, und Ida, über den Umfang des Unglücks nicht mehr im Zweifel, brach in Thränen aus. – –

Verena fand nur noch die Mutter im Eßzimmer.

„Leise!“ Die Richterin deutete auf die Thür ins Nebenzimmer.

„Schläft Papa?“

„Er versucht’s. Die Nachricht hat ihn angegriffen.“

Verena blickte nachdenklich drein. „Ich mache mir jetzt Vorwürfe, daß ich Helmuth zu schweigen gelobte. Es würde besser gewesen sein, Papa auf das Ereigniß vorzubereiten.“

„Ach, freilich wär’s besser gewesen, unendlich besser!“

Das Mädchen schmiegte sich an die Mutter. „Weißt Du, ich begreife Papas Erschütterung vollkommen. Wenn ich früh morgens dem Tag die Fenster öffne, dann ist mir jedes Mal, als müßte ich rufen: Du liebe, schöne Heimath du! Und Papa ist so viele Jahre hier. Wenn er aus dem Fenster schaut, kann er sich sagen: Von der Burg bis zu den Bergen ist kein Haus und keine Hütte, in der ich nicht gekannt bin. Gekannt und geliebt. Der alte Strobel hatte vorhin Thränen in den Augen. ‚Einen Mann wie den,‘ meinte er, ‚kriegt Hohenwart in alle Ewigkeit nicht mehr! Und nun wird der Herr Tannhauser Amtsrichter. Eifrig ist der ja auch; wenn ich nicht gesagt hätte, daß die hohe Familie auf dem Schloß jetzt bei Tisch sitze, wäre er im Schlafrock heraufgelaufen! Eifrig ist auch er, aber – aber!‘ Ach, Mama, wir hätten nicht fortverlangen und Hohenwart und die treuen Freunde hier nie verlassen sollen!“

„Und Helmuth und Du?!“ – Verena schwieg betroffen. – „Für uns Alte freilich – aber ich hab’ es gewollt, und geschehene Dinge, Kind, sind leider, leider nicht ungeschehen zu machen.“ Und seufzend begab sich Frau Ida ins Nebenzimmer, um nach ihrem Manne zu sehen.

*  *  *

Der neue Amtsrichter wurde zu seiner Enttäuschung nicht vom Hausherrn, sondern von den Damen empfangen. Er war zwar sonst für die Lieblichkeit Verenas nicht unempfindlich, allein an jenem Nachmittag war er sich selbst genug. Das Hohenwarter Amtsgericht war die Welt, und er brannte vor Eifer, die Welt zu regieren. Die Unterhaltung mit den Damen verzögerte diesen großen Augenblick.

Er hatte das Gesicht verbunden, sein Scheitelhaar sträubte sich hinter der schwarzen Seide widerborstig empor. Obgleich er in seine Mienen sanfte Trauer legte, trat er doch ungleich zuversichtlicher auf als früher; er war ja des Hausherrn Nachfolger in Amt und Würden und – in der Wohnung.

Ida entschuldigte die Abwesenheit ihres Gatten; die Nachricht, die völlig unerwartet gekommen sei, habe ihn tief erschüttert.

„Frau Baronin,“ betheuerte Tannhauser, „auch mich; unerwartet und tief. Der Weggang Ihres Herrn Gemahls ist für uns ein großer, beinahe möchte ich sagen, unersetzlicher Verlust. Mein einziger Trost ist, daß der Mann, der in die Lücke tritt, sein leuchtendes Beispiel vor Augen hatte. Ich kann die Frau Baronin versichern, daß der neue Amtsrichter die Ueberlieferung hochhalten wird.“

„Wir übergeben Ihnen die Wohnung im besten Zustande,“ entgegnete die Richterin trocken. „Ein gemütliches Heim. Heute ist es allerdings auch hier oben heiß.“

Tannhauser benutzte die Gelegenheit, um neugierig um sich zu blicken. „Herrschaftlich. Uebrigens würde mir die Hälfte, was sag’ ich, ein Drittel, eine Ecke zum Schlafen genügen. Mein wahres Daheim liegt drüben. – Hoffentlich wird mein verehrter Herr Vorgänger heute noch sichtbar sein?“

„Hoffentlich!“ wiederholte Ida frostig und richtete sich kerzengerade auf. „Doch nahm ich ihm bereits das Versprechen ab, heute kein Wort mehr von Geschäften zu reden, sondern sich uns zu widmen. Und auch Sie bedürfen ja der Schonung. Oder sind Sie nicht mehr leidend?“

„Sehr, aber die Pflicht –“

„Bester Herr Amtsrichter, mein Mann denkt über Pflicht und Dienst so streng wie Sie; allein es giebt gewisse Rücksichten. Ich würde diese Hast, das Alte loszuwerden, tadelnswerth finden. Das Ereigniß bildet einen Wendepunkt in Ihrem wie in unserem Leben, freuen wir uns mit Würde!“

Tannhauser fühlte sich unbehaglich, Verena nahm sich des Verlegenen an. „Herr Tannhauser,“ fragte sie, „was werden Sie denn mit Ihrer neuen Wohnung anfangen, wenn Sie selbst so wenig davon brauchen?“

„O, ich werde Mutter und Schwester zu mir nehmen – sie wohnten seither in Altkirchen – Dorf mit fünfhundert Einwohnern, mein Geburtsort. Unsere Verhältnisse sind sehr bescheiden; mein Vater war Dorfschulmeister, und als er starb, war ich noch so klein.“ Er hielt die Hand etwa einen Fuß hoch über die Erde. „Trotzdem machte es die Mutter möglich, daß ich das Gymnasium besuchen konnte. Auf der Hochschule half ich mir selbst, hart, aber dennoch. Und so – und jetzt – jetzt kann ich Mutter und Schwester bei mir haben. Meine Mutter ist hoch in den Sechzigen, die Schwester auch nicht mehr jung, doch brav, sehr brav. Und insofern freut es mich, daß die Wohnung hübsch und geräumig ist.“

Das war der griesgrämige häßliche Tannhauser von vorhin nicht mehr. Er sah frischer aus, und mit eins wurde es ihm behaglich. Als ihm Verena den Hut aus der Hand nahm, hatte er nichts dagegen einzuwenden, sondern setzte sich tiefer in den Sessel und musterte nunmehr mit Muße das Zimmer. „Herrschaftlich! wie gesagt, herrschaftlich! … So kann ich mich nicht einrichten, das ist klar. Immerhin, da Mutter und Schwester zur Schwärmerei geneigt sind, werden sie hier oben wie im siebenten

Himmel wohnen. Eine Ritterburg, wo vor so und soviel hundert

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