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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“.

Von Dr. A. Ullrich.

Bei dem lebhaften Interesse, welches für die Erscheinungen des Hypnotismus und ihre naturwissenschaftliche Erklärung gegenwärtig in allen Kreisen besteht, mußten auf der letzten Pariser Weltausstellung die grausigen Vorführungen der mohammedanischen Fakire um so sensationeller wirken, als gerade neuerdings die Wissenschaft diese Erscheinung mit den geheimnißvollen Gesetzen des Hypnotismus in Zusammenhang gebracht hat.

So klein und bescheiden das marokkanische Kaffeehaus war, das unter den echt orientalischen Bauten der höchst malerischen „Straße aus Kairo“ fast verschwand, so groß war doch die Anziehungskraft, die es auf Hunderte von Gelehrten aller Fakultäten und auf Tausende von Laien aller Berufsklassen übte. Sie alle wollten Zeugen sein der wunderbaren Macht des Menschengeistes über den Menschenleib, Zeugen der erstaunlichen Leistungen der Aïssawîjja oder Aïssaua, welche, thatsächlich und unbezweifelbar, wie sie sind, allen bekannten Naturgesetzen zu widersprechen scheinen.

Die Vorstellungen der Aïssaua fanden allabendlich um 9 Uhr in dem genannten marokkanischen Kaffeehaus statt, vor welchem tagsüber die Programmzettel an die Vorübergehenden vertheilt wurden. Der Inhalt eines solchen Programms war vielversprechend, aber gruselig zu lesen. Am Schlusse befand sich die tröstliche Bemerkung: „Um den Eindruck zu verwischen, welchen diese verschiedenen Vorführungen hinterlassen, wird der Abend durch ein Konzert beschlossen, an welchem die berühmten Almehen (Tänzerinnen) theilnehmen.“

Dieser Hinweis des Programms auf das Grausenhafte des von der Schaustellung zu erwartenden Eindrucks war eine Rücksicht auf das Publikum, welche Anerkennung verdient. Es lag darin ein gewisses Zugeständniß, daß öffentliche Vorführungen derartiger aufregender Abnormitäten ungehörig sind. Denn wenn auch die Fakire selbst mit ihren Uebungen zunächst nur religiösen Zwecken dienen wollten, wenn die Folterqualen, die sie sich dabei auferlegten, in ihrer Ekstase von ihnen auch nicht empfunden wurden, so wurde doch jene Schaustellung vom Unternehmer zum Zwecke der Sensation vor das Publikum gebracht, das jene Martern unwillkürlich als wirklich empfundene ansehen mußte. Vorführungen dieser Art gehören allein vor das Forum der Wissenschaft.[1]

Punkt 9 Uhr stieg ich hinauf in das erste Stockwerk, wo ich, dem Eintrittsgelde von 3 Franken angemessen, nur Leute aus den besseren Ständen aller Nationen antraf. Gleich an der Treppe links vom Eingang befand sich ein etwas über 2 Meter langes und ungefähr 11/2 Meter breites, mit einem verschossenen Teppich belegtes Podium, in dessen Hintergrunde vier Aïssaua mit untergeschlagenen Beinen Platz genommen hatten. Vor ihnen, dem Zuschauer zur Rechten, stand ein großer Stachelkaktus und ein Becken mit glühenden Kohlen, in welches von Zeit zu Zeit Räucherwerk hineingeworfen wurde; zur Linken bemerkte man eine eiserne Schaufel, ein Schwert, eine verdeckte Schachtel, in der sich Schlangen befanden, und einen kleineren mit Skorpionen gefüllten Behälter; in der Mitte lagen dünne Glasscherben, ein etwa handlanger, kleinfingerdicker, runder, spitzer Dolch mit ganz gewöhnlichem hölzernen, kugelartigen Griff und einige stählerne Nadeln von der Dicke und Länge der gebräuchlichen Stricknadeln. Ich nahm auf der ersten Bank unmittelbar vor dem Podium Platz, um alle Vorgänge genau beobachten und prüfen zu können. Die Aïssaua begannen unter Begleitung eines trommelartigen, mit Schellen besetzten Instrumentes ihren eintönigen Singsang, dessen einfache Textesworte die immer wiederkehrende Anrufung Allahs und des Ordensstifters Ben Aïssa bildete. Zunächst war das Tempo langsam, die Melodie dumpf und leise, dann wurde die Musik immer schneller, lauter und schreiender. Als der scheußliche Gesang nach einigen Minuten zu einem markerschütternden Gebrüll angewachsen war und damit seinen Höhepunkt erreicht hatte, sprang plötzlich einer der Aïssaua empor und vorwärts auf das Podium, wobei er unabsichtlich das Becken mit den glühenden Kohlen auf den Teppich umstieß, sodaß sich alsbald ein brandiger Geruch im ganzen Raum verbreitete. Er warf sein Oberkleid ab, stemmte beide Arme in die Hüften und begann den vorgeschriebenen religiösen Tanz, bei welchem er taktmäßig ein Bein um das andere erst langsam, dann immer rascher emporhob und den Oberkörper und Kopf vor- und rückwärts beugte oder vielmehr schleuderte, das Gesicht immer seinem ihm gegenüber sitzenden Scheich, den Rücken den Zuschauern zugewandt.

Die Verbeugungen und Schwankungen des Körpers werden unausgesetzt heftiger und tiefer. Da erschallt ganz plötzlich ein durchdringendes, fürchterliches Geheul. Der vom Schwindel ergriffene Aïssauî stürzt wie ein Thier nieder auf alle Vier, weißen Geifer vor dem Munde; mit seinen stieren Augen wie toll um sich blickend, dreht er den Kopf nach allen Seiten, als ob er etwas suche. Jetzt ist die Verzückung auf ihrem Gipfelpunkt angelangt, jetzt ist der Fanatisierte nach dem Glauben der Moslims vom Geist des heiligen Aïssa besessen und durch diese Einwohnung gefeit gegen Hieb und Stich, gegen Feuer und Gift. In diesem Zustande spielt er nun auf Geheiß des Scheichs die Rolle eines Straußes, Kameles, Löwen etc. und verrichtet alles, was ihm geboten wird. Auf einen Wink seines Vorgesetzten fährt er schnell mit der Hand in die Kohlenpfanne, nimmt einige brennende Kohlen heraus, steckt sie in den Mund, haucht sie so stark an, daß die Funken sprühen, kaut und verschluckt sie dann. Hierauf reißt er von dem stacheligen Kaktus ein Blatt weg, beißt ein Stück davon ab, zermalmt es mit den Zähnen und verschlingt es unter jämmerlichem Gestöhn. Der übrig gebliebene größere Theil wurde von dem französischen Impresario zum Zwecke genauer Prüfung herumgereicht. Das Blatt war ungemein zäh und die Stacheln so fest und scharf, daß man sich leicht die Haut damit ritzen konnte. Mit der gleichen Gier zerkaut er das ihm vom Scheich hingeworfene dünne Glas; man hört bei dem Zerkleinerungsprozeß ganz deutlich das Krachen und Knirschen, sieht aber nichts von irgend welcher Verwundung der Zunge und des Mundes; und doch ist es wirkliches, nicht etwa aus durchsichtigem Wachs nachgemachtes Glas, wie sich jeder durch den Augenschein überzeugen konnte, da die übrig gebliebenen Brocken ebenfalls bereitwilligst jedem in die Hand gegeben wurden.

Kaum hat er wieder unter Grunzen und Heulen alles hinuntergewürgt, als er auch schon zähnefletschend nach einer ihm hingehaltenen Schaufel schnappt, deren eiserner Theil bis zum Rothglühen erhitzt worden war. Um jeglichen Zweifel auszuschließen, nahm der die Schaufel hereinbringende Diener ein Stück Papier, legte es darauf, und sofort flammte dasselbe lichterloh; auch saß ich so nahe, daß ich die ausstrahlende Hitze ganz deutlich verspürte. Der Fakir nahm die Schaufel mit der rechten Hand beim hölzernen Stiel und schlug mit der linken ein paarmal auf die glühende Platte, dann leckte er dieselbe ganz behaglich an, als ob ihm dies das größte Vergnügen gewähre, und stellte sich schließlich mit beiden nackten Füßen darauf, bis das Eisen wieder ganz schwarz war, wobei sich ein unangenehmer Geruch wie von verbranntem Horn verbreitete. Jetzt wurde ihm ein haarscharf geschliffenes Schwert gegeben, dessen Schärfe man dadurch bewies, daß darüber hinweggezogenes Papier im Nu entzwei geschnitten wurde. Er stemmte es abwechselnd mit der Spitze und Schneide scheinbar mit aller Kraft gegen den Hals, gegen die nackte Brust und Seite, ohne sich im geringsten zu verletzen. Alsdann wurde das Schwert mit der Schneide nach oben, ungefähr 3 Fuß vom Boden, wagrecht emporgehalten, und zwar an der mit seidenen Tüchern umwickelten Spitze von dem Diener, am Knauf von einem andern Aïssauî. Indem sich nun der Fakir an den Schultern der beiden Männer festhielt, sprang er barfuß mit einem Satz auf die Schneide und richtete sich senkrecht auf. Alsdann entblößte er seinen Leib von den Kleidern und legte sich quer über die Schneide des Schwertes, so daß der Oberkörper nach vorn, der untere Theil des Körpers mit den Füßen nach hinten überhing, ohne daß jedoch die letzteren den Boden berührten, und dabei drückte ihn der Scheich mit seiner eigenen ganzen Körperlast noch


  1. Wir erinnern hier an den Standpunkt, den die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887, Nr. 36, in dieser Frage eingenommen hat. Die Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_659.jpg&oldid=- (Version vom 4.10.2023)