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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Sonntagskleider könnten im Spind verstocken, denn Gesche hätte sich mit ihnen nie wieder beim Tanze im „Rothen Wasser“ zeigen dürfen, weil sie doch keinen Tänzer gefunden hätte. Die Sittsamkeit der helgoländer Frauen und Mädchen unterlag in dieser Zeit noch einer höchst strengen Volksgerichtsbarkeit.

Lars’ Lachen war jedoch zu keines Unberufenen Ohr gedrungen. Er sagte jetzt tiefernst, mit einem Anflug von Bitterkeit: „Ja ja, das könnt’ wohl sein; wenn nur die Gesche keine Helgoländerin und ich nicht vom dänischen Jütland gebürtig wäre! Einen Dänen darfst Du ja doch nie freien. Ihr seid hart wie der rothe Felsen und guckt herab auf alles, was nicht auf Eurem Felsen geboren ist.“

Der junge Däne hatte die Worte grimmig vor sich hin gemurmelt, es klang wie das dumpfe Murren der See. Einige Augenblicke blieb es still zwischen den Liebesleuten, dann stieß Gesche hervor:

„Wahr ist’s, so sind wir. Aber wir wissen auch, daß Kraft und Dichtwesen[1] bei jedem Mann das Beste ist. Probier’s und Du sollst sehen, es glückt!“

„An Tollheit[2] soll’s von meinetwegen nicht fehlen,“ sagte Lars, „aber Knud Froden bleibt ja doch ein Starrkopf“

„Wird sich finden!“ erwiderte Gesche, „tritt Du nur für ihn ein bei der Postfahrt. Er meinte freilich von Dage[3], dazu hätte der jütische Torfkopp keine Kurasche —“

„Was? Jütischer Torfkopp?“ schrie Lars, „nu thu ich mit, Gesche, und wenn die Franzosen mich sammt dem ledernen Postsack im Watt ersticken sollten.“

Das Mädchen seufzte tief auf. „So stell’ Dich zeitig bei Vadder ein; mit Tagwerden soll die Schaluppe nach dem Werk [4] abgehen. Es sollen diesmal wichtige Depeschen im Sack sein, sagt der Kommandant von der englischen Brigg, die Euch begleiten will.“

*  *  *

Kaum kroch der erste dämmernde Tagesschimmer über das grollende Meer herauf, da wurde schon an der Hausthür des alten gebrestigen Knud Froden der Riegel gehoben, und Lars der Däne trat über die Schwelle. Der alte Lotse saß bereits in seiner Koje aufrecht und schalt in den grauenden Tag hinein, daß die Welt immer schlechter werde, daß das junge Mannsvolk keinen Muth mehr habe und in diesen schlimmen Zeiten immer mehr Wind unter die Füße kriege, und daß die Mädchen auch zu nichts mehr werth seien als im „Rothen Wasser“ die Röcke zu schwenken.

Gesche hantierte unterdeß am Herd, schürte das Torffeuer, daß die Funken sprühten, und bereitete den Morgenkaffee, ohne auf des Alten grimmige Auslassungen ein Wort zu erwiderten.

Da knarrte der Riegel. Das Mädchen fuhr zusammen, und ohne sich nach dem Kommenden umzusehen, bückte sie sich rasch, um frischen Torf an das Feuer zu legen.

Lars stampfte erst ein wenig die Füße ab, schleuderte den nassen Südwester aus und ging dann durch die halbdunkle niedrige Stube bis an das Lager des Alten; hier blieb er stehen und sagte nach kurzem Morgengruße: „Ik heff hürt, dat de Bestmann von de Kumpanei brestig is.“

„Schall wol wesen; un watt sunsten noch?“ erwiderte ihm der Alte.

„Ik meen, dat ’r wohl Platz för ’ne stramme Fust bi wör,“ erwiderte Lars ruhig.

Der alte Friese richtete sich plötzlich in seinen schweren Kissen noch höher auf, blickte mit seinen scharfen durchdringenden Augen den jungen Dänen an und sagte langsam und mit schneidender Stimme:

„Dat gilt ’ne Postfahrt nah ’n Werk, mang de Franzosen dör! Dat geit üm ’t Leven! He?“

„Weit ik, Kund Froden. ’t geiht för Recht un Pflicht; eben dorum!“

Der alte Lotse lachte kurz auf und streichelte seinen grauen Stoppelbart; Lars wartete unterdeß geduldig, bis es dem Alten gefiel, eine Antwort zu geben.

„Gesche, bring’ Kaffee!“ kommandierte Knud Froden seiner Tochter zu, die eben den Kaffeekessel vom Feuer hob, wobei der Widerschein der rothen Gluth ihr Gesicht überstrahlte. Gesche goß ein, und während die Männer den heißen Morgentrunk zu sich nahmen, gab Knud Froden mit kurzen Worten die nöthige Weisung über den Punkt auf der Insel Neuwerk, wo das englische Postfelleisen abgeliefert und dafür das von dem deutschen Festlande heimlich nach der Elbinsel geschaffte in Empfang genommen werden müsse. Lars nickte verständnißvoll und meinte: „Is all god.“ Er hatte schon die Thür in der Hand, als ihn der alte Lotse noch einmal scharf anrief.

„De englischen Depeschen möten dör de Franzosen an de Dütschen ’brocht wären, wird dat de Däne gau richtig maken?“

„Hei wird, Knud Froden, hei wird! ’t geiht for Recht un Plicht!“ erwiderte Lars.

*  *  *

Auf dem Unterlande herrschte schon reges Leben um diese Stunde. Einheimische Fischer und englische Matrosen standen in Gruppen bei einander, erstere „stumm und stur[5]“, letztere lebhaft sprechend; seitwärts neben dem großen hölzernen Warenschuppen, den die Engländer erbaut hatten, saßen einige fröstelnde Weiber und warteten mit Henkelkörben und Demijohns[6], daß ihre Väter und Männer das Rauhfutter[7] für die Reise begehrten.

Es handelte sich darum, ob die Postfahrt nach Neuwerk angetreten werden müsse oder nicht. Die Helgoländer hielten sich nämlich keineswegs dazu für verpflichtet, obwohl sie diesen Dienst seit der englischen Besitzergreifung freiwillig versehen hatten. Heute fehlte aber der, welcher bislang nicht nur sein einmastiges Fahrzeug, seine Schnigge, zu den gefährlichen Fahrten hergegeben, sondern auch mit seiner Person die Verantwortung allein getragen hatte, der alte Knud Froden. Die Schnigge schaukelte freilich ein Dutzend Ellen weit vom Strande auf den letzten Ausläufern der Brandungswellen, aber ihr Führer lag, von seinem alten Gebresten heimgesucht, daheim in der Koje, und die zu der Schnigge gehörige Fischerkompagnie wollte keinesfalls das Wagstück ohne einen verantwortlichen Führer unternehmen. Mochten doch die Engländer über die friesischen Dickköpfe schelten und auf die Wichtigkeit der Briefe und Depeschen hinweisen, die nach Neuwerk und von da durch andere Freunde der Engländer nach Cuxhaven und weiter nach Stade und Hannover geschafft werden mußten! Das Schelten wirkte bei den Helgoländer Fischersleuten ebensowenig wie der Hinweis auf die nordwärts von der Insel ankernde Brigg, das englische Kriegsschiff, welches gestern die Post gebracht hatte und heute die Fischerschaluppe schützend begleiten sollte. Die Helgoländer verzogen bei all dem Schimpfen und Wettern keine Miene. Ihr Starrsinn brachte die Engländer in Aufregung und endlich der Wuth nahe. Schon fielen Worte von Zwang und Gewalt seitens der Briten, die Friesen erwiderten die Drohungen, indem sie die Aermel ihrer Schifferjacken hochkrämpten und ihre nervigen Fäuste zeigten; ein Augenblick noch, und es wäre zu Handgreiflichkeiten gekommen, die wahrscheinlich den Grund zu einer keineswegs rosigen Zukunft der Inselbewohner gegeben hätten. In dieser entscheidenden Minute jedoch kam ein Mann in hohen Seestiefeln, die gelbe Oeljacke über den Schultern und den Südwester auf dem kurzgeschnittenen Haar, „de Börrig“ herabgesprungen. Es war Lars. Unten angekommen, sprang er mit fröhlichem Gesicht unter die sich bedrohenden Parteien und rief: „Alltids Manneshand baven![8] Knud Froden schickt mi! Is all’s klar?“

Nach zehn Minuten war denn auch alles klar, d h. zur Abfahrt bereit. Die Engländer sprangen eilig in ihr Boot und ruderten nach der Brigg, um dort die gute Nachricht zu überbringen, daß die „blonden Holzköpfe“ die Helgoländer, endlich ein Einsehen in ihre Pflicht bekommen hätten, und die Kameraden von Knud Frodens Kompagnie tappten durch das niedrige Wasser bis zu der segelfertigen Schaluppe. Allen voran hantierte Lars, der seinen Südwester im Uebermuth grüßend den am Strande zurückbleibenden Weibern und Mädchen entgegenschwenkte und gleich darnach selber half, das Fahrzeug durch Einstemmen


  1. Dichtwesen = Dichtsein, Zusammenhalten der Geisteskräfte, Besonnenheit.
  2. Tollheit = Kühnheit, Muth.
  3. von Dage = heute.
  4. Insel Neuwerk.
  5. Stur = unregsam, schwerfällig.
  6. Umsponnene Glasflaschen mit Branntwein.
  7. Die nöthigsten Lebensmittel.
  8. Allzeit Männerhand oben, d. h. jederzeit braucht eure Kräfte.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_722.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2023)