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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Auf Geben und Nehmen.
Novelle von Johannes Wilda.


1.

Hinter dem jungen Manne, der sinnend in einem zierlich getakelten, rasch dahinfliegenden Vergnügungskutter saß, ragten die Thürme der Stadt, die Masten und Rahen des Hafens aus dem verschwimmenden Goldduft der untergehenden Sonne. Traumhaft stand zu beiden Seiten der Bucht der Buchenwald an den sanften Höhenzügen; dazwischen senkten sich die Kornfelder und Wiesen zum weißsandigen Ufer.

Lag das Glück dort in der Ferne, wo das Meer sich endlos vor seinen Augen dehnte, wohin sein sehnsuchtsvoller Blick aus dem Boot über die sich weitende Bucht drang?

Ach nein, dort in der Ferne lag es nicht! Mehr als einmal war er an dem Leuchtthurm vorbei ins Unendliche gesteuert, wo der Wind heulend die brausenden Wogen übereinander warf; wohl hatte des Südens heißere Sonne mit ihren Wundern ihm gelacht, allein die Insel, auf der das Glück ihn an die Brust geschlossen hätte, die hatte er nicht gefunden.

Wenn er hier in der Heimath weilte, zog es ihn hinaus; schweifte er in der Ferne, so trieb es ihn zurück.

Aber noch war er jung; noch durfte er suchen, was er vielleicht nirgends erreichte, was ihm vielleicht nur das Bewußtsein eintrug, daß die Zeit des Suchens die schönste auf Erden gewesen sei! –

Das Boot, an dessen Spiegel der Name „Bachstelze“ prangte, hatte beim Winde der jenseits liegenden nördlichen Buchtseite zugestrebt. Jetzt raffte sich der junge Mann aus seiner grübelnden Haltung auf, rückte die Uniformmütze noch ein wenig weiter in den Nacken und befahl seinem Burschen, der mit breitem Rücken an der kleinen Kajüte lehnte, sich zum Wenden fertig zu halten. Darauf legte er langsam das Ruder seitwärts.

Willig gehorchte die „Bachstelze“, um bald wieder hurtig unter geschwelltem schimmernden Segel mit leisem Rauschen die wenig bewegte Fluth zu durchschneiden, die in der Strandnähe wie Smaragd, in der Ferne blau und dort, wo der Sonnenglanz auf ihr lag, violett und purpurn leuchtete. Hier und da trieb glatter Tang vorbei, ein Krautbündel mit einem Taschenkrebslein darauf, oder, rhythmisch sich ausdehnend und zusammenziehend, eine glockengestaltete weißliche Molluske. Flatternd berührten Möven die Fluth, um sich dann wieder gleich Silberpunkten durch die Bläue des von rosigen Wölkchen gesäumten Abendhimmels zu schwingen.

Während sich nun das Boot einer kleinen Einbiegung des Ufers näherte, hinter der aus Getreidekoppeln und sattem Busch- und Baumgrün die Ziegeldächer und Strohfirste eines Stranddorfes hervorlugten, trat bei den zwei Insassen des Fahrzeugs wieder eine beschauliche Pause ein. Der Matrose, ein Hüne an Gestalt, spielte gedankenvoll mit dem eben ausgeklopften schwarzen Thonstummel, an dem er mit Kabelgarn kunstvoll ein kleines Mundstück angebracht hatte. Sein Herr aber nahm die Bernsteinspitze seines ebenfalls recht geschwärzten Holzpfeifchens aus dem Mund und fragte den Untergebenen: „Woran denken Sie, Frettwurst?“

Der Bursche schnellte in eine militärische Haltung empor; während er die treuen blauen Augen auf den Fragenden richtete, verzogen sich seine Lippeu zu einem aufwärts gekrümmten Halbmond. Dann sagte er unendlich vertrauensvoll: „An Ihr, Herr Lieutenant!“

„Haben Sie ‚Ihr‘ auch schon wieder geschrieben?“

„Noch nich, Herr Lieutenant!“

Dieser machte eine mißbilligende Miene. „Das dürfen Sie nicht auf die lange Bank schieben, Frettwurst! Wenn man eine wirkliche Braut besitzt, hat man auch Pflichten gegen sie.“

Frettwurst schaute verlegen auf die Zehen seiner nackten Füße hinunter. „Ach, Herr Lieutenant, sie weiß auch so, daß ich ihr nich vergessen thu’.“

„Das glaub’ ich schon; aber deshalb müssen Sie doch ihre Briefe beantworten. Das bloße Denken an Ihre Treue macht Ihre Braut nicht glücklich, sie will’s auch schwarz auf weiß haben.“

Frettwurst seufzte. Sein Lieutenant hatte gut reden, für den war Schreiben gar nichts, für ihn aber bedeutete es ein schweres Stück Arbeit – und dann guckten die Tischkameraden ihm immer über die Schultern und machten ihre Witze. Doch sein Gesicht verklärte sich wieder, als Lieutenant Gebhardt bemerkte:

„Ist Ihr Tabak alle?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.“

„Da!“

Seelenvergnügt nahm der Matrose den Kautschukbeutel mit dem duftenden türkischen Tabak in Empfang und stopfte sich mit seinen dicken Theerfingern zierlich den Thonstummel, worauf er den Beutel mit respektvoller Vorsicht zurückgab.

„Haben Sie Lust, mit auf den ‚Falken‘ zu gehen, Frettwurst, wenn ich meinen Dienst dort antrete?“

„O, wenn das anginge, Herr Lieutenant!“

„Ich will versuchen, Sie mitzubekommen. Der ‚Falke‘ wird einen Monat in Radegast zur Verfügung der Familie des Prinzen August stationiert werden. Dann können Sie vielleicht auch Urlaub erhalten und Ihre Braut zu sehen kriegen. Damit sind Sie doch einverstanden, he?“

„Das is tausendmal besser als schreiben, Herr Lieutenant!“ rief Frettwurst in gehobener Stimmung. „Und wenn ich nur bei Ihnen bleiben thu’, will ich überhaupt nix mehr!“

Der Offizier lächelte gerührt; die Anhänglichkeit des offenherzigen Burschen that ihm wohl. „Aber einmal müssen wir doch scheiden, Frettwurst,“ gab er zur Antwort, „und bei Ihrer künftigen Frau wird’s Ihnen dann doch besser gefallen als bei mir.“

Der Matrose fuhr sich verlegen in das weißblonde kurzgeschorene Haar, „Wenn ich doch meine Frau haben und dabei Ihr Bursche bleiben könnte, Herr Lieutenant!“

„Ja, das geht leider nicht. Sie sehen, Frettwurst, daß es im Leben nichts Vollkommenes giebt. Man muß eben mit den Aussichten, die man hat, zufrieden sein!“

Frettwurst besaß ein dumpfes Gefühl für die Richtigkeit solcher Philosophie. Er nickte daher ebenso aus Gehorsam wie aus Ueberzeugung. Neben diesem dumpfen Gefühl machte sich aber ein sehr klares über die persönliche Stimmung seines Herrn geltend. Auf den vielen gemeinsamen Fahrten, die sie beide auf der „Bachstelze“ ausgeführt, hatte er seinem Lieutenant alles erzählt, was sein Herz bewegte, und dieser hatte freundlich alles mit angehört und ihn so gut ermahnt und berathen, nicht anders wie sein eigener Vater, als der noch lebte. Ja, wie sein Herr über seine Braut zu ihm sprach, so hatte überhaupt noch niemand zu ihm gesprochen! Der Herr Lieutenant wußte ganz genau, wie es so einer in der Ferne zu Muthe sein mußte, und er besaß doch selbst keine! Aber daß er sich eine wünschte, das hatte ihm Frettwurst schon lange angemerkt. Und verdienen würde er sie! Na und wie! Solch einen Lieutenant wie den Herrn Lieutenant Herbert Gebhardt gab es nicht wieder!

Frettwurst setzte verschiedenemal zum Reden an und stockte wieder. Endlich faßte er sich ein Herz. „Herr Lieutenant sollten auch mit eine gehen, mit eine würkliche, mein’ ich. Herr Lieutenant können so schön darüber sprechen und würden dann gewiß zufriedener sein als jetzt. Dieses hab’ ich an mich selbst gemerkt, Herr Lieutenant!“

„Sie sind“ – „ein Esel“ wollte Herbert sagen, aber Frettwurst sah ihn so treuherzig an, daß er den Zusatz unterdrückte und ganz ernsthaft fortfuhr: „Das verstehen Sie nicht, Frettwurst, obgleich Ihr Rath so uneben nicht ist. Wenn mir so ‚eine‘ vor den Bug kommt, die zu einer ‚wirklichen‘ paßt, werde ich mir’s vielleicht ’mal überlegen. – Jetzt aber klar beim Geitau! Und passen Sie auf den Klüverbaum – wir wollen dort an die Brücke gehen!“

Die „Bachstelze“ hatte das Ufer erreicht. Mit eingeschnürtem Großsegel glitt sie sanft an die Seite des Holzsteges, der hier in das durchsichtige grüne Wasser hinausgebaut war. Frettwurst gab acht, daß der lange Klüverbaum nicht mit einem der Pfähle in zu harte Berührung käme, sprang dann heraus und legte das Fahrzeug fest.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_014.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2020)