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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

des Schlimmen: in die Mitte des wundervollen Platzes pflanzte man jene berüchtigte Stracksche Säule mit der plumpen Drakeschen Viktoria und den Kränzen von Kanonenrohren, jenes Siegesdenkmal, das der Berliner Volkswitz gerecht und vernichtend den „Siegesschornstein“ nennt.

Wie aus Scham vor dieser künstlerischen Niederlage nach großen kriegerischen Siegen ließ man den Platz verwildern. Noch Ende der siebziger Jahre war er zum größeren Theile ein abscheuliches Sandfeld. Erst am Anfang des vorigen Jahrzehnts machte man nach einem einheitlichen Plane ziemlich gewöhnliche und reizlose gärtnerische Anlagen, stellte Büsten und Figuren hinein und legte Fahr- und Gehwege an, die nach Regenwetter beinahe unbenutzbar waren. Nur die Theile um die Siegessäule erhielten ein gutes Mosaikpflaster, wie es der Platz verdiente.

In diesem Zustande befindet sich der Platz noch heute.[1] Nur eines hat sich verändert: das kleine Raczinskische Palais ist verschwunden, und an seiner Stelle erheben sich die gewaltigen Glieder des neuen Reichstagsgebäudes.[2] Dieses Monumentalwerk ist endlich eine Anlage, die des Platzes würdig ist. Es gehört zum Platz und der Platz gehört zu ihm. Sie ergänzen sich in ihrer natürlichen Großartigkeit. Nirgends anderswo in Berlin durfte das Reichshaus hingestellt werden.

Noch umgeben mächtige Gerüste die Ecken und zum Theil auch die Mittelflächen der Fassaden, und insbesondere die Westfassade, die nach dem Königsplatz zu gelegen ist und die wir als die hauptsächlichste auf unserem Bilde Seite 144 und 145 zeigen, wie sie nach ihrer Vollendung sich darstellen soll, wird noch von dem Stangenwerk zum großen Theil verdeckt.

Dennoch kann man bereits einen Gesamteindruck von dem Bau gewinnen, die Hauptlinien zeichnen sich frei am Himmel ab, und stolz und blinkend erhebt sich in der Mitte die mächtige Kuppel, Glas zwischen goldschimmernden Rippen, darüber die gleichfalls goldglänzende Laterne, ein feingegliederter, mit Säulen umstellter Bau, und über ihr, als Abschluß des Ganzen, auf schlankem Träger im Sonnenlicht funkelnd, die goldene Kaiserkrone.

In den allgemeinsten Umrissen ist das neue Reichstagsgebäude ein Rechteck, an dessen vier Ecken Thurmbauten die Frontlinie überschreiten und die Dachlinie hoch überragen und dessen vier Fassaden je in der Mitte in einem gewaltigen säulengetragenen Thorbau ausladen. Ueber der Mitte des Ganzen steigt die schon erwähnte Kuppel auf.

Diese im Ganzen einfachen Linien umschließen eine unübersehbare Fülle architektonischer und bildnerischer Einzelwerke. Die Maße des Baus sind so gewaltig und der Aufriß ist in seinen Hauptzügen so sicher und ruhig, daß das Beiwerk nimmermehr überwuchern kann. Es begegnet uns bei jedem Blick in immer neuen Formen und doch fügt es sich wie selbstverständlich den Flächen ein, die zwar geschmückt erscheinen, aber nichts von ihrer vornehmen Ruhe einbüßen. Jedes Glied geht in der Harmonie des Ganzen auf, und darum erscheint es leicht und gefällig, obwohl es an sich, den Größenverhältnissen des Ganzen entsprechend, kolossal ist.

Ein Beispiel für viele: die Säulen, die der Leser auf unserem Bilde der Westfassade am Portal erblickt, übertreffen an Höhe die Mittelsäulen des Brandenburger Thores. Wer von diesem gewaltigen Denkmal her auf den Königsplatz kommt und die Portalsäulen des Reichstagsgebäudes erblickt, möchte das kaum glauben, so schlank, graziös und leicht erheben sich diese Säulen vom Fuß bis zu den aus reichem Blattwerk gebildeten Kapitälen. Und doch messen diese Säulen 16,7 Meter mit dem Sockelstein, während die Säulen des Brandenburger Thores nur 13,8 Meter hoch sind.

Paul Wallot,
der Erbauer des neuen Reichstagsgebäudes.
Nach einer Photographie von Wilh. Fechner in Berlin.

Und da wir einmal bei den Zahlen sind, noch ein paar andere! Die bebaute Fläche beträgt rund 11638 Quadratmeter, das Produkt aus einer Länge von 131 und einer Breite von 88 Metern, das ist mehr als 4½ preußische Morgen. Zieht man aber um den ganzen Bau, von den äußersten Punkten zu den äußersten Punkten vier zu einem Rechteck sich zusammenschließende Linien, so mißt dieses Rechteck sogar rund 13300 Quadratmeter, das sind ruud 5¼ preußische Morgen. Um diese Fläche zu bebauen bis zu einer Durchschnittshöhe von 27 Metern, bedurfte es 15 Millionen Ziegel und 14000 Kubikmeter Sandstein. Diese 15 Millionen Ziegel, hintereinandergereiht, ergäbell einen gepflasterten Weg von 500 geographischen Meilen (etwa die Entfernung zwischen Bordeaux und Astrachan), und die 14000 Kubikmeter Sandstein nehmen ein Volumen ein, das gleich ist dem Volumen sämtlicher Bewohner einer Stadt etwa in der Größe von Dresden. Dafür kostet der Bau aber auch die runde Summe von 21 Millionen Mark, die bekanntlich seinerzeit aus der französischen Kriegsentschädigung für diesen Zweck zurückgelegt wurde.

Doch genug der Zahlen! Die gewaltigsten Maße würden nichts helfen, wenn der künstlerische Werth des Werkes gering wäre. Das ist aber glücklicherweise nicht der Fall. Meister Paul Wallot hat mit dem Reichstagsgebäude einen Bau geschaffen, der eine Zierde Berlins, ja Deutschlands sein wird. Er nimmt in der modernen Architektur Europas seinen bedeutsamen Platz ein, und es darf wohl ausgesprochen werden, daß er nach seiner Vollendung einen starken Einfluß auf die Baukunst der kommenden Jahre ausüben wird.

Das Reichstagsgebäude hat seinen eigenen Stil. Dieser Stil vereinigt die beruhigte Abgeschlossenheit des Renaissancebaues mit dem Aufstrebenden der Gothik, die Formefülle des Barock mit den großen Flächen moderner Nutzbauten. Die Eckthürme und Portale tragen reichen bildnerischen Schmuck, die Frontflächen dagegen sind schmuckloser und strenger, sie werden im Norden, Osten und Süden durch Pilaster, auf der Westfront dagegen durch gewaltige eingemauerte Säulen gegliedert.

Mit Hilfe unseres Bildes von dem Giebel und dem Eckthurm der Südfassade (S. 141) gewinnt man eine ungefähre Vorstellung von dem überaus reichen Schmuck, den diese vorzugsweise mit Bildnerei bedachten Theile des Baues tragen. Auf dem Eckthurm knabenhafte Genien, die jubelnd die Kaiserkrone in die Luft heben; darunter reich mit Ornamenten geschmückte Simse und Säulenstellungen. Auf einem weiteren Absatz vier gewaltige Figuren: Rechtspflege, Staatskunst, die Wehrkraft zu Lande, die Wehrkraft zu Wasser. Es ist eine glückliche Symbolik, daß diese Figuren fest dastehen auf den riesigen Säulen, sicher getragen von unerschütterlichem Fundament. Auch jeder der anderen Thürme trägt vier solcher Kolossalstatuen. Einer Großindustrie, Handel und Schiffahrt, Elektrizität, Hausindustrie, ein anderer Ackerbau, Viehzucht, Bier, Wein der letzte Erziehung, Kunst, Litteratur, Wissenschaft. Und wie reich nimmt sich der Giebel aus mit dem ungeheurer ruhenden Adler in seiner Mitte und überragt von den Flankenpilastern, die das Reichswappen trage unter der Hut der mit ausgebreiteten Schwingen sitzeden schlangevernichteden Reichsadler!

Natürlich ist den Portalen ein ganz besonders reicher Schmuck zugedacht. Sie werden außer Ornamenten, Abzeichen, sinnbildlichen Figureun mannigfacher Art große bildnerische Gruppen tragen. Im Giebelfelde des Hauptportals am Königsplatz wird eine figurenreiche Gruppe von Schaper prangen. Sie zeigt einen Norddeutschen und einen Süddeutschen (Preußen und Bayern), die gemeinsam das Reichswappenschild behüten und umgeben sind von idealen Gruppen, die Kunst und Wissenschaft, Handel und Industrie verkörpern. Als Hauptgruppe wird sich darüber, auf

die große Freitreppe hinausschauend, Reinhold Begas’ reitede

  1. WS: Fehlender Punkt ergänzt.
  2. WS: Fehlender Punkt ergänzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_140.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2016)