Seite:Die Gartenlaube (1893) 173.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Fürsten, welchen sie zunächst anging, und sie wollte, ähnlich wie des Erasmus „Anleitung für den christlichen Fürsten“, ähnlich wie der „Fürst“ Macchiavellis, den Königen und insbesondere dem Könige zeigen, wie ein Volk regiert werden müsse, um zufrieden und glücklich zu sein. Aber neben dieser sogar bis auf die Beibehaltung der Inselgestalt und andere Einzelheiten sich erstreckenden kritischen Absicht, in welcher More dem englischen Zerrbild auf der nördlichen Halbkugel das Idealbild auf der südlichen gegenüberstellt, läuft noch eine bestimmte eigene Ueberzeugung her.

Ein sozialdemokratischer neuerer Darsteller der Utopie hat dieses Eigene, was an dem Werke ist, damit ausgedrückt, daß er More den Vater des „utopistischen Sozialismus“ nennt. Und zwar sei dieser Sozialismus utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel, die More zu deren Erreichung zu Gebote stehen oder die er anwenden wolle.

An der Kirchenpforte.
Nach einem Gemälde von H. Raff.

More ist, wie namentlich die Schlußbemerkung zeigt, die er selbst auf die Rafaelschen Erzählungen hin macht, bewußter wirthschaftlicher Kommunist ohne jegliche Einschränkung. Aber wie sein „Utopus“ es ist, der als kraftvoller, genialer Mensch und Eroberer die Landzunge durchsticht und das glückliche Land schafft, so denkt sich der große Kanzler Londons – und hierin ist er mit seinem Lehrer Platon einig – auch die kommende Verwirklichung des utopistischen Volksglückes von oben herab nach unten ins Leben tretend, wenn es überhaupt verwirklicht werden könne. Nimmermehr kann man also bei Morus das finden oder aus ihm herauslesen, was das innerste Wesen der modernen sozialdemokratischen Partei bildet, nämlich den Grundsatz der internationalen Verbrüderung und Organisation der Massen „von unten herauf“, noch weniger den einer schrankenlosen Volksherrschaft. Thomas More kennt nicht bloß einen König auf Lebenszeit für seine Utopier, er läßt auch von Sklaven auf Utopia erzählen, die vordem freie Bürger waren! –

Die „Utopia“ ist das Urbild für Dutzende späterer derartiger Werke geworden, die wir hier nicht aufzählen wollen, da sie alle mehr oder weniger hinter ihrem Vorbilde zurückbleiben. Mit Mores Werk treten wir ein in diejenige Periode, in der die wirthschaftlich ausgemalten Staatsromane mehr und mehr mit dem Sinn für Wirklichkeit zu rechnen anfangen und wo auch das Streben nach einer planmäßigen Verwirklichung der ausgedachten und ausgesprochenen Ziele sich zu zeigen beginnt.

Man kann von jetzt ab unterscheiden zwischen großangelegten, in allgemeinen Zügen gehaltenen Entwürfen von Staaten, Reichen etc. und zwischen kleineren, ja ganz kleinen praktischen Versuchen. Die letzteren namentlich sind deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil ihre Geschichte die Lehrmeisterin für die Beurtheilung der Theorien der Gegenwart sein kann, ja sein muß.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_173.jpg&oldid=- (Version vom 10.8.2020)