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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ab und versuchen theilweise die Umbildung der Gesellschaft im kleinen oder wenigstens unter bestimmter Beschränkung. Dies hat auch zur Folge, daß Hand in Hand mit dem Abstreifen des bewußt utopistischen, also vaterlandslosen Wesens eine nationale Eigenart in Umgebung, Auffassung und Anwendung der Mittel mehr hervortritt.

Aus der Masse hierher gehöriger Gestalten greifen wir einige Typen heraus, die Franzosen Fourier und Cabet, den Engländer Owen und den Süddeutschen Rapp.

Charles Fourier und Etienne Cabet.

Am deutlichsten trägt das zwischen Wirklichkeit und Utopie getheilte zwiespältige Gepräge das Leben und Denken des Franzosen Charles Fourier (1772 bis 1837). Dieser mit überaus scharfer Beobachtungsgabe und kritischem Blick für die sozialen Schwächen seiner Zeit und seiner Umgebung ausgestattete Handlungsgehilfe aus Besançon, der sich nie mit der betrügerischen Natur derjenigen Manipulationen, die man dazumal Handel nannte, befreunden mochte, bekämpfte zwar mit Entrüstung Rousseau und „die Philosophen“; thatsächlich aber steht auch er noch unter dem Bann ihrer mechanisch-physikalischen Denkweise. Er ging von der fixen Idee aus: wie Newton durch die Entdeckung der Gesetze der Anziehungskraft der Weltkörper das innere Bewegungsgesetz für die stoffliche Welt gefunden habe, so müßten die Gesetze der sozialen Entwicklung gefunden werden, auf denen die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch beruhen. Dieses letztere Gesetz nun glaubte Fourier gefunden zu haben, und zwar, wie er selbst sagt, rein zufällig. Es ist das Gesetz der „Attraktion der menschlichen Triebe.“ Im Jahre 1808 hat Fourier sein System, vielfach[WS 1] mit phantastischen Träumereien vermischt, niedergelegt in dem Werke „Die Theorie der vier – später wurden es jedoch fünf – Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“ und dasselbe in den nächsten 20 Jahren noch mehrfach wiederholt und weitergebildet.

Nach dem Gesetze der sozialen Bewegung, der Anziehung der verschiedenen menschlichen Triebe, dessen Darlegung den Angelpunkt der weitschweifigen Ausführungen Fouriers bildet, ist die Bestimmung des Menschen das Glück, das durch die Entwicklung aller seiner Anlagen und durch die Befriedigung aller seiner Triebe erreicht wird. Die Grundlage des inneren Glücks ist die Gesundheit, die des äußeren der Reichthum. Die bekannten fünf Sinne sind die Triebe des Körpers; Liebe, Freundschaft, Auszeichnungs- und Familientrieb sind die vier Triebe der Seele. Diese neun Triebe werden ihrerseits von drei sie lenkenden und bewegenden Trieben beherrscht, vom Trieb der „Intrigue“, der auf den Willen wirkt, dem Schmetterlingstrieb (papillon, wie denn Fourier überhaupt derartige Bilder außerordentlich liebt), der nach beständiger Abwechslung drängt, dem Begeisterungstrieb, der nach Gutem und Schönem lenkt. Diese drei Kräfte wirken zunächst auf die vier seelischen, diese hinwiederum auf die fünf körperlichen Triebe. Wir ersehen hieraus, daß die verschiedenen Menschen, in der jeweiligen Befriedigung je eines oder mehrerer ihrer Triebe begriffen, die verschiedensten „Gruppen“, „Serien“ etc. bilden können; sie einigen, trennen sich je nach Zeit und Wunsch, wobei jeder der Reihe nach seine Triebe befriedigt. Dieser ganze Kreislauf spielt sich innerhalb einer berechenbaren Personenzahl ab. Will demnach der Mensch eine möglichst allseitige Befriedigung dieser seiner Trieb„serie“ erlangen, so müßte er dazu – und hier erhalten wir den Schlüssel zu den Fourierschen Plänen – eine Organisation vorfinden, die ihm ebensowohl alle körperlichen Bedürfnisse landwirthschaftlicher, industrieller und sonstiger Natur lieferte wie zugleich die wechselnde Bethätigung der seelischen Triebe ermöglichte. Dies vermöchte allein „die hauswirthschaftlich-landwirthschaftliche Association“, welchen Titel Fourier auch einem seiner grundlegenden Werke gegeben hat, oder die ausgebildete „Phalanstère“. „Phalanx“ nennt Fourier – nach der keilartig in den Feind eindringenden Schlachtordnung Philipps von Macedonien – die erste nach den von ihm gefundenen „Gesetzen“ zu bildende, in die jetzige Organisation der Erdoberfläche eindringende Genossenschaft, von der aus durch gleichartige Neugründungen die ganze Erde mit etwa zwei Millionen solcher Phalangen netzartig überzogen werden soll. Eine Art phantastischer „Omniarch“ steht an der Spitze des Ganzen, der seinen Sitz aber nicht in Paris, sondern in Konstantinopel haben wird[.] Die Anlage der Phalanstère muß so erfolgen, daß häusliche Arbeiten, ländliche Arbeiten, industrielle Arbeiten, Austausch, Unterricht, Wissenschaft und Kunst möglichst angenehm und zweckmäßig abwechseln können.

Dazu genügt, wie Fourier genau berechnet, eine Zahl von 1800 bis 2000 Menschen, weil in ihr alle Triebe und Charaktereigenschaften zur Entfaltung kommen können; jede größere oder kleinere Zahl würde die Ausgleichung stören. Wie das Kreuz der Typus der mittelalterlichen Kirchen ist, so ist die „Serie“ der Typus des Wohn- und Arbeitsgebäudes der Phalanx, d. h. ein Centrum mit zwei mittleren oder Hauptflügeln und zwei äußersten oder Nebenflügeln. Die Gemeinwirthschaft bedingt diese Form. Das Centrum enthält die Räume, wo die 2000 Personen mehrmals des Tags verkehren, die zwei Hauptflügel enthalten die verschiedenen Werkstätten, die geräuschvolleren nach außen; in den oberen Stockwerken sind die Wohnräume. Gegenüber der Phalanstère, d. h. hinter ihr, liegen die wirthschaftlichen Nebengebäude. Die Länge des ganzen Bauwerks beträgt 600 Meter, alles ist doppelt und parallel laufend mit dazwischen liegenden Hofgärten gebaut. Eine breite gedeckte Galerie verbindet im Inneren alle Theile des Gebäudes und dient als Hauptader des Verkehrs. Mit der größten Breite und Anschaulichkeit verweilt Fourier bei der Schilderung der Vortheile, welche die gemeinsame Arbeit in diesen genossenschaftlichen Betrieben allen Angehörigen gewährt, wie die beständig abwechselnden Befriedigungen aller Triebe beständig neue Reize und Genüsse bringen, welche Ersparnisse an Arbeitszeit und -kraft erzielt werden und wie schließlich „Luxus“, d. h. volle Einheit des Genusses, erreicht wird. Der Areopag und die aus ihm gewählte oberste Regentschaft haben sehr wenig zu thun, da sich alles durch gegenseitige Anziehung und durch den Korpsgeist der Stämme, Chöre und Serien regelt. In echt französischer theatralischer Manier geht alles vor sich. Der Unterschied des Besitzes hört keineswegs auf, wird jedoch durch die verschiedensten Umstände gemildert. Die Vertheilung des Arbeitsertrags findet nach drei Fähigkeiten, die der einzelne hinzubringt, statt: nach Arbeit, Talent und Kapital. Die Arbeit erhält 5/12, das Kapital 4/12 und das Talent 3/12. Man sieht, Fourier liebt die „bestimmten Zahlen“; warum er gerade diese Abstufung gewählt hat und überall gelten lassen will, sagt er uns nicht.

Die Kosten der Errichtung einer Phalanx berechnete Fourier auf 15 Millionen Franken. Bis zu seinem Tode erwartete er, wie feststeht, in unauslöschlichem Glauben an die Wahrheit seiner Lehren Tag für Tag um die Mittagsstunde in seiner Wohnung den Mann, der ihm die Mittel zur Gründung der ersten Versuchsphalanx zur Verfügung stellen würde. Dieser Mann ist aber nie gekommen, und so starb Fourier, ohne daß sein heißer Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Ein Versuch mit 500 Hektaren, der 1832 in der Nähe von Rambouillet gemacht worden, war aus Mangel an Mitteln schon in den Anfängen stecken geblieben. Die wenigen Anhänger Fouriers, Muiron, Viktor Considérant, Bürkli und andere, gründeten zwar eine Zeitschrift zur Verbreitung der Lehren ihres Meisters, aber dieselbe ging schon nach 10 Jahren in einem gewöhnlichen Tageblatt auf. Dagegen wirkte Fourier innerlich befruchtend nach allen Seiten hin, nach Deutschland, Amerika und in die Schweiz; in Zürich erschienen nach dem Tode Fouriers mehrere Schriften, in denen die Auswanderung nach Texas empfohlen wurde, damit man dort seine Pläne verwirkliche.

Diese letztere Anregung verschmolz mit den Wirkungen eines noch ganz der romantischen Utopie angehörigen Werkes, der „Reise nach Ikarien“ von Etienne Cabet. Das Buch – streng genommen ein Plagiat nach dem Englischen eines gewissen F. Adams – ist insofern eine Ergänzung der Werke Fouriers, als es die Befriedigung aller menschlichen Triebe, namentlich aber der sinnlichen, mit wahrhaft vollendetem Wohlbehagen schildert. Im übrigen ist die ganze Art der Darstellung dieses Romanes nichts Neues; neu aber ist die Thatsache, daß dieser Cabet, geboren 1788 zu Dijon, seines Zeichens ein rabiater Rechtsanwalt, der wegen Aufreizung zum Bürgerkrieg verbannt gewesen war, nach seiner Rückkehr in Paris sofort eine Zeitung für seine Pläne gründete und nach allen Seiten hin die größte Propaganda entfaltete. Tausende begeisterten sich in den Jahren 1840 bis 1848 für diesen „Ikarus“, und am 3. Februar 1848 verließ eine Vorexpedition von 69 „Ikariern“ Frankreich, um drüben im Staate Texas in Fanin County eine große Kolonie zu gründen. Allein nach kurzer Zeit brach das Gelbe Fieber aus, und nur ein kümmerlicher, kranker und entmuthigter Rest kehrte nach New-Orleans zurück. Nach kurzer Zeit traf aber Cabet selbst von Frankreich in New-Orleans

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: viefach
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_363.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2020)