Seite:Die Gartenlaube (1893) 482.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Sie fühlte sich beobachtet und wurde schweigsam. Das bestärkte die Leute erst recht in ihrem Vorurtheil. Emma ergab sich der Einsamkeit, in der sie wie alle Einsamen schließlich die Entdeckung machte, daß sie zur Schwermuth veranlagt sei.

Sie suchte in der Kunst Ersatz für die Gesellschaft, und der städtische Kapellmeister wurde ihr Klavierlehrer. Da Vater Hagemann den Stunden beiwohnte, knüpfte sich bald an den Unterricht ein Plauderstündchen. Vater und Tochter empfanden die geistige Ueberlegenheit des jungen Mannes, doch ohne Unbehagen, denn Robert Lenz war auch ein guter Mensch. Emma blickte in eine neue Welt. Mit Ungeduld wartete sie auf sein Kommen, mit Bedauern sah sie ihn gehen. Sie sah von ihm auf den Vater, vom Vater auf ihn und wünschte sich keine andere Gesellschaft. Dann fragte sie sich, ob das Gleiche wohl auch bei Robert Lenz der Fall sei, und beantwortete eines Abends die Frage folgendermaßen: er liebt mich. Weiterer Fragen wurde sie überhoben, denn ein Briefchen des Kapellmeisters meldete, daß ihm eine große Arbeit die Fortsetzung der Klavierstunden unmöglich mache. Emma war bestürzt, Hagemann brummig. Er ging schnurstracks zu dem Abtrünnigen, doch seine Mittheilungen über die Unterredung waren ebenso dunkel wie trostlos. „Er kann wirklich nicht mehr kommen – Du darfst ihm nicht zürnen; er verdient alle Hochachtung, er ist ein ehrlicher Kerl!“ Eine Ahnung beschlich Emma. Robert Lenz dachte: „Arm zu arm und reich zu reich!“ und wagte nicht, ihre Hand zu erobern. Sie versagte ihm nicht ihre Achtung, aber Robert Lenz war von nun an nicht mehr der „Herrlichste von allen“. Der Mann nach ihrem Herzen mußte nicht nur gut und geistvoll, sondern auch kühn und verwegen sein.

Sie redete sich ein, den Verlust leicht zu ertragen, doch die Musik blieb ihr verleidet; so flüchtete sie sich zu den Büchern. An den langen Winterabenden saß sie allein bei der Lampe und las. Punkt Neun verließ der Vater die Herrengesellschaft in der „Sonne“ und erschien daheim zum Thee. Ein halbes Stündchen wurde von beiden verplaudert, dann las Hagemann seine Zeitung, die er beim Morgenkaffee nur überflog, vom Leitartikel bis zur letzten Anzeige gründlich durch, und Emma las auch – Gedichte, Dramen, Geschichte und Geschichten, „populärwissenschaftliche“ Werke. Sie hatte keine kritische Ader, las ohne Auswahl, vielleicht manches ohne Verständniß, aber alles mit völliger Hingabe. Wenn sie las, hörte sie nicht den klatschenden Regen, nicht das Brausen und Rollen der See.

Während einer Reise hatte Emma in Berlin einer Aufführung von Ibsens „Nora“ beigewohnt. Die theatralischen Genüsse, die den Wördern dann und wann von Wandertruppen geboten wurden, waren mäßig. Das glänzende Haus, die gute Darstellung, die eigenartige Dichtung, alles trug dazu bei, Emma jenen Berliner Abend unvergeßlich zu machen. Henrik Ibsen war fortan ihr Lieblingsdichter und sie verschlang seine Werke, die sie vielleicht mit Vorsicht hätte lesen müssen.

Der Tochter Hagemanns würden die Freier nicht gefehlt haben, wenn sie nur weniger znrückhaltend gewesen wäre. Ihr Vater war selbstsüchtig genug, über ihre Unnahbarkeit sich zu freuen, denn der Gedanke an ihren Verlust war für ihn fürchterlich. Wenn er die Goldene Jugend seiner Geburtsstadt musterte, fühlte er sich beruhigt. Aber auf Ausflügen, oder wenn die Sommerfrischler aus dem „Deutschen Kaiser“ in das friedliche Städtchen einbrachen, zitterte er für seine Perle. Als die Kaufmannschaft zu einem Ball, der besonders glänzend werden sollte, die Offiziere der nächsten Garnisonstadt einlud, würde Hagemann mit Vergnügen abgesagt haben. Anderseits hielt er seine Anwesenheit für eine patriotische Pflicht. Als er mit Emma am Arm in den Ballsaal trat, erfüllten Stolz und Furcht sein Herz; Emma schoß den Vogel ab – das war keine Frage. Eine Stunde lang schwelgte er dann beruhigt in Vaterwonnen. Die Herren vom Ausschuß drückten ihm ihre Dankbarkeit, ihre Bewunderung aus. Der Regimentskommandeur und seine sämtlichen Offiziere stellten sich dem Papa der Ballfee vor.

Schon trug sich Hagemann mit dem Gedanken, die bewaffnete Macht auf nächsten Sonntag zu Tisch zu bitten, schon entwarf er bei den Klängen der ersten Quadrille den Speisezettel, den wunderbarsten seines Lebens – da entdeckten seine eifersüchtigen Augen, daß Emma mit einem ihrer vielen Tänzer mit Vorliebe tanzte. „Natürlich ein Lieutenant!“ murmelte er grimmig, und sein Vergnügen verwandelte sich in Wermuth. Seine üble Laune endigte nicht mit dem Ball, er ging mit ihr zu Bett und wachte mit ihr auf. Er wagte keinen Schritt aus dem Hause zu thun, denn er erwartete den Feind. Und seine Ahnung verwirklichte sich, der Lieutenant traf ein.

„Was denkst Du,“ fragte Hagemann lauernd, „nehmen wir ihn an?“

Emma sah vom Buche auf. „Ganz wie Du willst, lieber Vater.“

Hagemann that erleichtert einen tiefen Athemzug. „Wir lassen bitten,“ sprach er zu seinem Kutscher, der, wenn er nicht fuhr, den Diener vorstellte.

Emma benahm sich musterhaft. Der Lieutenant war ein ausgezeichneter Tänzer, aber er hatte sie gekränkt. Als sie mit ihm nach einem Walzer die Runde durch den Saal machte, fiel ihr Blick auf den Kapellmeister, der schwermüthig hinter dem Dirigentenpulte saß. Die Wörder Ballmusik, früher entsetzlich, war diesmal ausgezeichnet, dank Robert Lenz, der sich freiwillig erboten hatte, nicht nur in den Proben, sondern auch am Ballabend zu dirigieren. Bisher hatte der Lieutenant seine Tänzerin über dies und das ausgefragt nun fragte sie: „Wie finden Sie unsere Musik?“

„Wenn man mit einer Sylphe tanzt, ist die Musik gleichgültig,“ versetzte der Kriegsmann. „Mit Ihnen, mein Fräulein, würde ich ebensogut und gerne nach einer Sackpfeife als nach einem Orchester tanzen. Uebrigens spielen die Leute recht brav, der Kapellmeister ist leider nur kein Strauß.“ Die Schmeichelei that keine Wirkung, das Herz Emmas war vielmehr für den armen Robert aufgewallt. So beobachtete sie denn während des kurzen Besuches eine höfliche Schweigsamkeit, die den Vater entzückte, den Lieutenant entmuthigte. Gestern war ich versucht, das Gerede für Fabel zu halten, dachte der junge Mann, als er an der Hausthür mit einem letzten Aufblick rechtsum machte; aber sie ist wirklich taub wie eine Wachtel! –

Als Frau Hagemann noch lebte, hatte die Familie Sommer für Sommer in ihrem Landhause an der See verbracht. Mit Emma allein fühlte sich der Witwer dort durch die Erinnerungen drinnen und die Waldeinsamkeit draußen bedrückt. In der Stadt hörte er den Marktlärm am Morgen und das Hafengetreibe den ganzen Tag. Wenn er einen Blick aus dem nächsten Fenster warf, sah er drüben das traute alte Haus, die „Sonne“; wenn er in der Nacht aufwachte, unterschied er die Tritte auf dem gepflasterten Platz, den eiligen eines Bürgers, der zu lang in lustiger Gesellschaft geblieben war und nun muthig seiner Gardinenpredigt entgegenging, oder den schweren eines Fischers, der mit dem Tagesgrauen in die See stach. Er hörte die Stadtuhren schlagen, hörte das Rasseln der Ankerketten im Hafen oder Dampfpfeife und Schiffsglocke von der fernen Ostspitze, wo die Dampfer lagen. In seinem Strandhause sah er oft tagelang kein bekanntes Gesicht und hörte nachts nur Wind und Wogen. Aber sein Widerwille wurde von der Tochter nicht getheilt.

In diesem Jahre nun hatte sich eine Gelegenheit geboten, auf die Sommerfrische draußen mit Anstand zu verzichten. Der Fürst von H., hieß es, suche ein großes Wohnhaus an der See für seine Tochter. Sofort bot Hagemann dem Bürgermeister sein Landhaus an. „Es ist ein Opfer, das wir für das allgemeine Beste bringen,“ sprach er zu der schmollenden Emma. „Eine Prinzessin! Das macht Reklame für Wörde.“ Glücklicherweise fand der Bevollmächtigte, daß die Villa Hagemanns allen Wünschen seiner Gebieterin entspreche, und der Miethsvertrag wurde abgeschlossen. Hagemann vertröstete sein Kind auf eine Herbstreise.

„Nach dem Süden!“ rief Emma.

„Wohin Du willst,“ antwortete er mit einem Seufzer, denn er dachte an die vielen Fallen und Gefahren für die Freiheit seiner Tochter.

Nachdem die Vorläufer der hohen Gäste angelangt waren, machte Hagemann jeden Mittag vor seiner Heimkehr aus der Fabrik einen Abstecher nach seinem Landhause. Der Umweg war groß, doch das neue Leben dort zog ihn mächtig an. Das alles hatte Schick, und sie alle, vom Leibkutscher bis zum Stalljungen, waren von einer beneidenswerthen junkerhaften Gelassenheit. In der Villa wurde das unterste zu oberst gekehrt. Aber auch das geschah planmäßig, ohne Ueberhastung und ohne die geringste Rücksicht auf den Hausherrn. Und wenn Hagemann eine saure Miene machte, tippte ihm der Hoffourier auf die Brust, das heißt, auf das oberste Knopfloch und sagte verbindlich: „Unsere Hoheit wird entzückt sein, und unsere Hoheit weiß Verdienste zu schätzen.“

Ueber Herrn Stenzel sprach sich Hagemann besonders lobend aus. „Er ist ein vielgereister vielsprachiger Mann. Und gerieben!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_482.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2022)