Seite:Die Gartenlaube (1893) 499.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„In deinem Haar die blasse Rose
Will ich von deiner schönen Hand,
Dann lebe wohl, du Gnadenlose:
Verworfen bin ich und verbannt!
Einst wollt’ ich fliehen, doch es sprachen
Die Augen zärtlich damals: bleib’!
O diese Strahlenaugen brachen
Mein Herz – die damals baten: bleib’!
Nun wandr’ ich wieder, aber finde
Den Weg nicht mehr, der vor mir lag –
Wohin? Es schleicht der arme Blinde
Von Haus zu Haus, in Nacht am Tag!
Ich soll auf immer von dir scheiden?
Unmöglich – Fieber – Wahnstnn! Sprich!
Scheiden ist Tod! Ich will ja leiden,
Doch leben, denn ich liebe dich!“

Als der Sänger endigte, erzitterte das Haus unter dem losbrechenden Beifall, die Menge raste. Prinzessin Erna und ihre Damen gingen mit dem Beispiel voran; sie standen auf und schwenkten ihre Tücher. Blumen flogen. Emma liefen die Thränen über die Wangen, und doch war sie unaussprechlich selig.

Kaum aber hatte der Jubel, der minutenlang dauerte, sich gelegt, so brauste ein anderer Sturm durch den Saal. Mit eins flogen die Fenster auf und die Windsbraut stürzte heulend herein, ihr Brausen mit dem Donner der Wogen vermischend. Eine unglaubliche Verwirrung entstand. Alles rannte durcheinander. Und Siegfried benutzte die Gunst des Augenblickes; mit einem Sprung war er unten bei Emma, faßte ihre beiden Hände und flüsterte leidenschaftlich: „Ich liebe Dich – ich liebe Dich!“

„O, Siegfried!“

„Und liebst Du mich?“

Sie schlug die großen Augen zu ihm auf. „Ewig!“ –

Anfangs wurde Fritz Hagemann von den Badegästen, die erschreckt ins Freie wollten, fast bis zur Thür mitgewirbelt, dann arbeitete er sich mühsam gegen den Strom zu seiner Tochter durch. Sie stand jetzt vor der Rampe zwischen Lenz und Leisewitz. Hagemann hatte den Hut auf und war sehr roth, als er angeschnauft kam. Dann aber beruhigte er sich; bei zwei Beschützern haftet der eine für den anderen. Er stellte sich breitspurig vor Emma.

„Hat man je einen solchen Aufstand erlebt um einen Mundvoll Wind! Diese Landratten! Weil ein paar Scheiben in Scherben gehen, glauben sie schon, der Sturm bläst das Haus um und die See ersäuft sie.“ Er blickte in das Gewühl auf der Bühne. „Aber die Cäcilianer sind auch keine Helden. Wenn ich Musikmeister wäre, ich hätte einen Walzer spielen lassen, und alles war gut. Na, nehmt’s nicht übel, Lenz! Lustig, Leisewitz! Ich bin kein Freund von Redensarten – aber es war großartig!“

„Vater, meine Blumen!“ rief Emma. „Ich habe sie Dir übergeben, als man mich zur Prinzessin holte.“

„Erlaube mir, in diesem Wirrwarr konnte ich unmöglich –“

„Sie sind das Opfer der rasenden See,“ sagte Leisewitz und lachte.

„Die schönen armen Blumen!“

„Morgen bringe ich Ihnen andere. Und was wird jetzt? Es zieht hier fürchterlich!“ Im Nu hatte ihm Emma ihr Spitzentuch um den Hals geschlungen – ihre erste Kühnheit!

„Sie sind ein Engel, Fräulein Emma! Aber wehe meinem Giuseppe, der Kerl läßt sich nicht blicken!“

„Sie dürfen heute niemand böse sein, Herr Leisewitz,“ sagte Emma mit einem Blick, der dem Vater nicht gefiel. Er sah mißtrauisch von ihr auf den Sänger. „Warum heute nicht?“

„Fräulein Emma meint wohl, wenn man eben soviel Güte erfahren habe - aber was machen Ihre Miether, Hagemann? Ich sehe die Prinzessin nicht mehr.“

Hagemann stellte sich auf die Fußspitzen. „Zum Teufel, wer kann an alles denken!“ Robert konnte ihn beruhigen. Er hatte die Prinzessin am Arm des Bürgermeisters auf der Bühne gesehen.

„Am Arm Segebergs – die Prinzessin!“ rief Hagemann. „Mein Sonnenbruder Prinzessinnenführer – Gott, daß ich das nicht gesehen habe! Aber jetzt gelüstet mich nach etwas Trinkbarem – ich denke, wir können jetzt in das Erkerstübchen. Nein, nein, Leisewitz, lassen Sie den Kapellmeister nicht fort, reichen Sie ihm den Arm, so! Ihr habt Euch heute in die Ehren getheilt, Ihr müßt auch für den Rest des Tages die Unzertrennlichen sein.“ –

In der wogenden Menge war die Gruppe um die Prinzessin eine Insel. Wenigstens Segeberg, der den Bedrängten beigesprungen war, die zwei Lakaien, die sich aus dem Hintergrund den Weg zu ihrer Herrin ertrotzt hatten, und Doktor Walter standen wie Felsen. Erna verlangte dem Arzt gegenüber die sofortige Heimkehr. Er wandte ihr ein, daß die Pferde des fürstlichen Marstalls wohl an Gewitter, aber nicht an die brüllende kochende See gewöhnt seien.

„Aber ich will ja nicht fahren! Ich will gehen!“

„Unmöglich, Hoheit!“

Sie lachte unmuthig auf. „Glauben Sie denn, ich werde den Wellen in die Arme laufen? Was kann mir geschehen?“

„Naß werden Sie werden, gnädigste Prinzessin,“ sagte Segeberg, „naß bis auf die Haut.“

„Ach was – ein Gang von zehn Minuten! Daheim giebt’s trockene Kleider und warmen Thee – Sie müssen ihn mit uns trinken, Herr Segeberg! Ja, daheim beim warmen Thee und in trockenen Kleidern – Aschau, Sie werden für unseren Bürgermeister Sorge tragen! – lachen wir darüber.“

„Sie vergessen den Sturm, Hoheit,“ sagte Walter.

„Den Sturm? Glauben Sie, ich kenne nicht den Unterschied zwischen einem Sturm und einer Bö? Vorwärts!“

Da war nicht länger zu streiten; der Zug setzte sich in Bewegung. Die Bedienten gingen an der Spitze; Segeberg folgte mit Erna und gab den anderen die Richtung an. Der Adjutant schritt der Prinzessin zur Linken. Aschau führte Frau von Schönfeld oder vielmehr sie führte ihren Ritter; denn der Wind blies ihm derart über Augen und Nase, daß er das Niesen bekam und alle Haltung verlor. Der Arzt und Gräfin Casasola beschlossen den Zug. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und stützte sich ohne Zimperlichkeit auf den Arm Walters.

Es war nicht Tag, nicht Nacht, aber auch nicht die holde Dämmerung der langen Sommerabende. Ein fahles Licht unter einem schwarzen Himmel, das nicht dem Aether, sondern den Gegenständen anzugehören schien; die kahle Hinterwand des großen Gasthofes, die schwanken Wipfel über der Gartenmauer, die farbigen Sommerhäuser, Kioske und Laubgänge, das alles war deutlich und scharf umrissen, aber in seiner Buntheit unter dem ungeheuren Trauermantel ebenso sonderbar wie ein Kerzenlicht bei blauem Himmel. Der Wind heulte und wimmerte; dazwischen hörte man das Donnern der See. Der Steig führte im Zickzack erst aufwärts in der Richtung auf den Wald, dann seewärts hinab. „Jetzt aufgepaßt!“ schrie der Führer; sie traten aus dem Schutz der Mauern auf die freie Uferstraße. Der Sturm packte sie sofort und schleuberte ihnen Schaumflocken und den Sprühregen der hochgehenden Wogen ins Gesicht. Sie mußten sich schief stellen und sammeln. Dann gingen sie langsam, ruckweise vorwärts.

Zur Rechten hatten sie die tobenbe See: Wellen über Wellen, wuchtige Massen mit krausen Kämmen; dunkle Schlünde, im nächsten Augenblick von stürzenden Bergen verschüttet; eine Million häßlicher ruheloser Polypenarme, gierig hervorlangend aus fliegendem Gischt. Ueberall sinnlos wüthende Kraft. Zur Linken der Wald, landein gebeugt, wie auf der Flucht vor der See. Möwen taumelten über dem Gewoge und schossen auf dem Strande hin und her; zuweilen hörten die Wanderer ihr Geschrei durch das Getöse. Die Prinzessin blickte scheu auf das Meer und seine greuliche Unrast. Ihr wurde schwindlig, die unendliche Wasserwüste schien sich über sie zu wälzen . . . „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ murmelte sie unwillkürlich und schmiegte sich an den wetterfesten Bürgersmann wie ein furchtsames Kind an den Vater.

Endlich auf dem Vorplatz der Villa Hagemann, angesichts der weitgeöffneten Thür zu dem schon hellerleuchteten Flur blieb Aschau stehen und sagte, indem er den triefenden Hut schüttelte und nach seinem Kneifer tastete, zu Frau von Schönfeld: „Man muß Gott für alles danken! Denken Sie sich, wenn unsere Gnädigste die Heimkehr zu Wasser befohlen hätte!“

Erna sah blaß und erschöpft aus. Sie verabschiedete sich noch in der Halle, empfahl ihrem Gefolge aufs wärmste den guten Bürgermeister und wünschte allen einen vergnügten Abend. Brausewein ging mit der Würde eines Grandseigneurs voraus, die Treppe hinauf; Erna und eine Kammerfrau folgten. Oben drehte sich die Prinzessin noch einmal um und nickte hinab; die Herren und Damen verneigten sich. Jeder freundliche Zug verschwand aus dem Antlitz Ernas, sobald sie der Gesellschaft den Rücken kehrte. Sie hatte Kopfweh, und wie es jedem zuweilen mit Versen oder Musikstücken ergeht, die Stelle aus dem Liede des Kapellmeisters: „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ verließ sie nicht mehr.

(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_499.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2022)